: Freies Lernen nicht genehmigt
In Berlin und Brandenburg beginnt heute das neue Schuljahr. In einem kleinen Dorf in der Uckermark haben Eltern für eine freie Grundschule im Ort gekämpft. Den staatlichen Segen aus Potsdam bekamen sie nicht ■ Aus Wallmow Heike Spannagel
Uckermark. Das ist da, wo die Landschaft grün und weit ist und sanft ins benachbarte Polen übergeht. Wo die Dörfer etwas verkommen aussehen und Lübbenow heißen, Potzlow oder Wallmow. Wo junge Menschen ihre Dörfer verlassen, weil sie keine Arbeit finden. Aber auch da, wo West-Familien hinziehen, weil sie auf dem Land was Neues anfangen wollen. Im nordöstlichsten Zipfel Brandenburgs ist das Klima rauh, aber herzlich – ein Klima für Menschen, die wissen, was sie wollen, nämlich hier leben und notfalls auch dafür kämpfen.
Annette Bohsung ist so eine. Seit die 27jährige Mutter von drei Kindern mit ihrer Familie 1994 von Stuttgart nach Wallmow gezogen ist, träumt sie den Traum von einer Dorfschule nach ihrem Geschmack. Zusammen mit anderen jungen Eltern machte sie sich vor drei Jahren daran, den Traum in die Tat umzusetzen. Aber die Uckermark ist nun mal kein Land zum Träumen. Idyllische Dörfer, wie Wallmow eines ist, stehen auf dem Boden der Tatsachen, und der kann machmal ganz schön hart sein: In Wallmow darf es keine Dorfschule geben, hat das Brandenburger Bildungsministerium beschlossen. Obwohl die Schulräume zum heutigen Schuljahresbeginn bezugsfertig sind, obwohl 18 Schulkinder und zwei Lehrkräfte bereitstehen, obwohl ein schlüssiges Konzept vorliegt.
Das 270-Einwohner-Dorf Wallmow liegt zwischen der Kreisstadt Prenzlau und der polnischen Grenze. Als die Bohsungs vor vier Jahren hergekommen sind, haben sie ein altes Haus gemietet und eine Tischlerei aufgemacht.
Staatspädagogik wollen Eltern und Kinder nicht
Annette Bohsung betreut ihre drei Kinder zusammen mit anderen Kindern aus dem Dorf in einer Art Privatkindergarten. Zwar gibt es in Wallmow eine öffentliche Kita, aber da wollen die Bohsungs ihre Kinder nicht hinschicken.
Seinab ist ein Wirbelwind mit frechem Zahnlückengrinsen. Ein kleines Mädchen, das die Erwachsenen auf Trab hält und lauthals verkündet, daß sie nun in die Schule kommt. Sie ist das älteste der drei Bohsung-Kinder, im Mai sechs Jahre alt geworden und Antriebsfeder ihrer Eltern. Sie wollen nicht, daß Seinab eine staatliche Grundschule besucht. Nicht weil es in Wallmow keine gibt, sondern weil die staatlich verordnete Pädagogik nicht ihren Vorstellungen von Erziehung entspricht. Sie wollen weder Stundenplan noch Zensuren für Seinab, sondern daß sie frei und selbständig lernen kann. Eine Idee, die man bei der Reformpädagogin Maria Montessori wiederfindet: Kindliches Lernen erfolge aus eigenem Antrieb, stellte diese um die Jahrhundertwende fest. Dies bedeute nicht, daß Kinder tun und lassen könnten, was sie wollen, sondern setze eine pädagogisch vorbereitete Umgebung voraus.
Genau so eine Lernumgebung haben die Eltern um Annette Bohsung in Wallmow geschaffen, in einem alten Bauernhaus am Rand des Dorfes. Die neue Schule ist im ersten Stock untergebracht. Hohe, helle Räume, Blick ins Grüne und viel Platz – auf 197 Quadratmetern sollen sich von heute an 18 Kinder tummeln, das haben sich Bohsungs und ihre Mitstreiter in den Kopf gesetzt. Nur: Brandenburgs Bildungsministerium will nicht.
Geplant war die Wallmower Grundschule als Zweigstelle der aktiven Naturschule im 35 Kilometer entfernten Taschenberg. Das pädagogische Konzept wollte man übernehmen und einen Schwerpunkt hinzufügen: Beim regelmäßigen Schüleraustausch mit Polen sollen die Wallmower Kinder Kultur und Sprache des Nachbarlandes kennenlernen. Der Partnerschaftsvertrag mit einer Grundschule im nahe gelegenen Szczecin ist bereits geschlossen.
Seit die Wallmower Eltern im April nach zähem Kampf mit der Gemeinde Brüssow den Zuschlag für die Schulräume erhielten, haben sie jede freie Minute zum Renovieren genutzt. „Wir wollen dem Dorf nichts überstülpen, sondern Neues ausprobieren“, sagt Annette Bohsung. Finanzielle Unterstützung gab's allerdings keine. Die Eltern nahmen einen Kredit von 100.000 Mark auf.
Wenn Annette Bohsung mit leuchtenden Augen erzählt, fällt es schwer zu glauben, daß ihr Projekt jüngst einen herben Schlag bekam: Mitte Juni kam Post aus Potsdam – das Bildungsministerium lehnte die Genehmigung der Schul- zweigstelle ab. Begründung: Es gebe bereits eine freie Grundschule im nahe gelegenen Taschenberg, zudem eine Zweigstelle in Templin. Eine weitere freie Schule in der Uckermark gefährde den Vorrang staatlicher Schulen. Die Brandenburger Bildungsministerin Angelika Peter (SPD) äußerte sich im Brandenburger Lokalfernsehen zu Wallmow: Die Schule könne nicht genehmigt werden, weil sich ihr Einzugsbereich mit dem Taschenbergs überschneide. Nach Auskunft ihres Sprechers liegt die Leitlinie für Schuleinzugsbereiche bei 30 Kilometern. Taschenberg und Wallmow liegen 35 Kilometer auseinander.
Am meisten ärgert die Wallmower Eltern, daß die Entscheidung gegen ihre Schule vom Schreibtisch aus gefällt wurde. Vor der Absage habe sich kein Behördenvertreter in Wallmow blicken lassen, sagt Annette Bohsung. Trotzdem ist ihr Optimismus nicht zu bremsen: „Wir Eltern haben das Recht, über die Erziehung unserer Kinder zu bestimmen, so steht es im Brandenburger Schulgesetz.“
Was braucht Almuth noch fürs Gymnasium?
Das Bildungsministerium hat den Wallmower Eltern inzwischen empfohlen, ihre Kinder auf die freie Grundschule nach Taschenberg zu schicken. Eine Dreiviertelstunde braucht man, um mit dem Auto dorthin zu gelangen, Busse gibt es keine. Auf schmalen Sträßchen kurvt man durch Stoppelfelder, durch Prenzlau und dann wieder durch Stoppelfelder. Taschenberg ist nicht viel größer als Wallmow, nur sind ein paar rührige Eltern dort drei Jahre früher auf die Idee gekommen, eine eigene Schule zu gründen. 1994 wurde die Montessori-orientierte Aktive Naturschule genehmigt und vom Land Brandenburg von Anfang an großzügig unterstützt. 47 Kinder von Klasse eins bis sechs besuchen inzwischen den Unterricht, der hier so ganz anders abläuft als in „normalen“ Grundschulen.
Wie in einem Kindergarten für große Kinder: Man geht durch den kunterbunten Flur, guckt in die Räume, wo Kinder allein oder in Grüppchen spielen, lernen oder rumalbern. In der Werkstatt werden Schwerter für das bevorstehende Griechenfest gesägt, im Bastelraum Kostüme angepaßt, im Foyer Dankeschönkarten für Eltern gedruckt, und im Hof spielen einige Jungen Fußball – jedes Kind macht in der „vorbereiteteten Umgebung“ das, wonach ihm der Sinn steht, Lernen inbegriffen.
Die zwölfjährige Almuth geht mit Schulleiterin Anke Heiden ihren Wochenplan durch. „Was meinst du, was du noch brauchen könntest?“ fragt die Betreuerin. Almuth schlägt Volumen- und Flächenberechnung vor. Außerdem hat sie sich für heute noch das römische Kaiserreich und einen Grammatiktest in Englisch vorgenommen. Almuth muß sich mehr ranhalten als die anderen Kinder. Vier Jahre hat sie in der Naturschule verbracht, im neuen Schuljahr wechselt sie „wegen der Fahrerei“ in die sechste Klasse eines staatlichen Gymnasiums. Der Wechsel erfolgt ein Jahr früher als geplant, deswegen muß Almuth eine Menge Stoff aufholen. „Almuth macht gerne was allein“, sagt Anke Heiden. Während die anderen Kinder von ihren Freiraum lustig Gebrauch machen, sitzt das ernsthafte Mädchen den ganzen Vormittag an ihrem Schreibplatz über Heften und Büchern.
Anke Heiden ist überzeugt davon, daß Almuth den Wechsel auf die staatliche Schule schafft. Sieben Kinder haben es ihr schon vorgemacht – von denen seien in Taschenberg durchweg positive Rückmeldungen eingegangen, sagt Anke Heiden. „Unsere Kinder können Fragen stellen und sich ihr Wissen selbst erarbeiten.“ Fast alle ehemaligen Taschenberger seien in ihren neuen Klassen zu Klassensprechern gewählt worden, ihre Noten seien ausreichend.
Trotzdem wollen die Wallmower Eltern ihre Kinder nicht nach Taschenberg schicken. Sie wünschen sich eine Schule in ihrem Dorf, die nicht nur sozial, sondern auch räumlich lebensnah ist. Beim Potsdamer Bildungsministerium haben sie deshalb auch nach der Absage keine Ruhe gegeben. Anfang August tauchten dann doch noch zwei Behördenvertreter in Wallmow auf, die Eltern wurden wieder enttäuscht: Ihren Kompromißvorschlag, eine Taschenberger Klasse nach Wallmow auszulagern, wollten die Schulpolitiker nicht gelten lassen. Die Eltern sollen bis zum 30. September ein neues pädagogisches Konzept entwerfen, um dann eine selbständige Schule zu gründen – die frühestens zum nächsten Schuljahr starten könnte. Vergangenen Donnerstag haben sich die Wallmower Eltern dazu durchgerungen, ihre Schule nicht ohne den Segen des Ministeriums zu eröffnen. Heute fahren sie ihre 15 Kinder zur Einschulung nach Taschenberg.
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