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Medikalisierung der Geschlechtlichkeit

■ Die Rede über den Körper ist nicht mehr moralisch, sondern medizinisch. Michel Foucaults Studie über den Fall des Hermaphroditen Barbin ist nun endlich auch auf deutsch erschienen

Was ist man, wenn man sowohl Penis als auch Vagina hat? Was heißt es, ein Geschlecht chirurgisch herzustellen? Und vor allem: warum muß man entweder ein Mann oder eine Frau sein?

Diese Frage versucht ein Text zu beantworten, ohne den keine Theorie über die Konstruktion des körperlichen Geschlechts auskommt: die von Michel Foucault herausgegebene Geschichte des Hermaphroditen Herculine Barbin. Mit der üblichen Verspätung, nämlich genau zwanzig Jahre nach seinem Erscheinen in Frankreich, kommt dieses Buch nun auf deutsch heraus, mit einem Vorwort Foucaults, dem Lebensbericht Barbins, einer davon inspirierten Erzählung von Oskar Panizza und einem medizinischen Dossier über den Fall.

Von den Herausgebern der deutschen Ausgabe, Wolfgang Schäffner und Joseph Vogl, ist es mit einem Nachwort versehen, das Foucaults Argument die notwendige wissenshistorische Tiefenschärfe gibt. Dessen Frage ist schlicht und rhetorisch: „Brauchen wir wirklich ein wahres Geschlecht?“ Seit etwa zweihundert Jahren offenbar schon.

Es geht fortan um Gesundes und Krankes

Seit dem 18. Jahrhundert jedenfalls gibt es ein Wissen vom Körper, seinen Zuständen und seinen Prozessen, das nicht mehr in der Hand der Kirche, sondern in der des Staats und der Wissenschaft liegt. Die Rede über den Körper und seine Lüge ist so nicht mehr moralisch, sondern medizinisch – es geht nicht mehr um Sünde und Tugend, sondern um Gesundes und Krankes. Verbunden mit dieser Medikalisierung der Geschlechtlichkeit ist die Vorstellung, daß sich in ihr das Geheimnis des Individuums verbirgt: Sage mir, was du begehrst, und ich sage dir, wer du bist. Wenn das Geschlecht, wie Foucault schreibt, „das Wahrste in uns verbirgt“, dann wird es nötig, es zu entziffern und, wo es Unbestimmtheiten gibt, Bestimmtheiten herzustellen.

Die Geschichte Herculine Barbins ist eine Geschichte über die Grausamkeit dieses Willens zum Wissen, dieser Notwendigkeit, sich zu entscheiden. Im ländlichen Frankreich des 19. Jahrhunderts wird sie als Mädchen getauft und wächst in Klosterschule und Lehrerinnenseminar auf, bis sie selbst als Lehrerin ein Mädchenpensionat führt. In dieser fast ausschließlich weiblichen und religiösen Umgebung fühlt sie sich aufgehoben und doch auf beunruhigende Weise abweichend: Sie empfindet seltsame Erregungen in den Armen der Vorsteherin, sie schämt sich ihres ungelenken und haarigen Körpers, und sie entdeckt unerklärliche Flecken in ihrem Bett. Als sie schließlich ein Liebesverhältnis mit einer jungen Lehrerin hat, offenbart sie sich aus Angst vor Entdeckung einem Priester und einem Arzt. Während die Mitschülerinnen, Erzieherinnen und Kolleginnen geradezu ostentativ über Herculines Andersartigkeit und ihr Verhältnis mit einer Frau hinweggesehen hatten, geht der Blick der Medizin und der Administration aufs Eigentliche – und das sind die Geschlechtsteile.

Hier muß entschieden werden, ob der Hermaphrodit ein Mann oder eine Frau ist. Man entscheidet für ersteres, obwohl Anlagen männlicher und weiblicher Genitalien da sind. Statt als monströse Frau unter der „Diskretion“ (Foucault) des monosexuellen religiösen Milieus zu leben, wird Abel Barbin nach der Änderung seiner Personalien die letzten Jahre seines Lebens als defekter Mann zubringen, bis er im Alter von dreißig Jahren Selbstmord begeht.

Keine Idylle der Unbestimmtheit

Zu keinem Zeitpunkt ist die Geschichte Barbins die Schilderung einer Idylle sexueller Unbestimmtheit und polymorpher Lüste. Mit reichlich trivialliterarischem Pathos erzählt sie vielmehr die Leiden eines Körpers, der um sein Anderssein weiß, ohne zu wissen, worin es besteht. Dieser Körper mit seinen Unerklärlichkeiten ist der eigentliche Held der Erzählung; er erzeugt Ängste und Lüste, Scham, Schmerzen und Sehnsüchte. Um so schlagender ist der Kontrast zu den beigefügten medizinischen Gutachten und deren geheimnisloser Rede über eine zu große, penisartige Klitoris, eine Vagina ohne Uterus und versteckte Hoden. Die Scham Herculine Barbins, vielleicht auch die Scham ihrer Gefährtinnen, die den andeutenden elliptischen Stil ihrer Erinnerungen prägt, ist so die exakte Gegenbewegung zu einem ärztlichen Willen zum Wissen, der alles ans Licht bringen, überall Eindeutigkeiten herstellen will und der zuletzt glaubt, daß man mit diesen Eindeutigkeiten besser lebt. Dies verrät jedenfalls das Erstaunen des Gynäkologen Neugebauer über Barbins Selbstmord: „Theoretisch sollte man annehmen, daß mit dem Momente, wo Alexina die soziale Stellung eines Mannes zuerkannt waren, ihre seelischen Qualen verschwinden würden [...] die Erfahrung jedoch spricht dagegen.“ Das „wahre Geschlecht“ ist vielleicht nicht immer das Richtige. Eva Horn

Herculine Barbin/Michel Foucault: „Über Hermaphrodismus“. Hrsg. von Wolfgang Schäffner, Joseph Vogl. Suhrkamp 1998, 245 Seiten, 19,80 DM

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