„Rußland braucht jetzt junge Leute“

■ Ognian Hishow, Ökonom am Bundesinstitut für Ostwissenschaftliche Studien in Köln, über die Finanzkrise, Tschernomyrdin und westliche Hilfe

taz: Herr Hishow, wie beurteilen Sie die Entlassung Kirijenkos?

Ognian Hishow: Politisch hatte Kirijenkos Mannschaft nie Rückhalt in der Duma, wirtschaftspolitisch war er keine schlechte Wahl. Hätte er mehr Zeit gehabt, wäre er eher in der Lage gewesen, etwas zu bewegen und die Situation zu stabilisieren.

Worin besteht die Wirtschafts- und Finanzkrise in Rußland?

Seit 1991 ist die russische Wirtschaftsleistung beständig zurückgegangen. Heute liegt sie bei 48 Prozent des Standes von 1990. Man hat versucht, diesen negativen Trend zu stoppen, indem die Geld-, Wechselkurs- und Lohnpolitik koordiniert wurden, um Bedingungen für ein zügiges Wirtschaftswachstum zu schaffen. 1995 war diese Politik partiell erfolgreich. Die Inflationsrate war rückläufig und lag Ende 1997/Anfang 1998 im einstelligen Bereich. Auch der Rubel war seit 1994 stabil. Die Denominierung (wobei aus 100.000 alten Rubel 100 neue wurden; d.Red.) Anfang des Jahres war ein Beweis dafür. Aber das entscheidende Problem war die Steuerpolitik. Das Haushaltsdefizit war enorm groß. Trotz Kreditaufnahme geriet die Währung unter Druck. Mit ein Auslöser war die asiatische Finanzkrise, weil viele südkoreanische Großbanken, die auf dem Markt der kurzfristigen Schuldverschreibungen in Rußland engagiert waren, sich zurückzogen. So mußten immer mehr Mittel für den Schuldendienst abgezweigt werden, was den Haushalt enorm belastete. Konsequenz daraus war die Finanzkrise von voriger Woche, die in der Abwertung des Rubel gipfelte.

Wie spüren die Bürger die wirtschaftliche Krise?

Die Inflation wird wieder anziehen. Die russische Wirtschaft und die Verbraucher sind sehr stark von Importen abhängig. Im Nahrungsmittelbereich kann Rußland die Versorgung fast ausschließlich durch Importe sichern. Sollte der Rubel um 50 Prozent abgewertet werden, bedeutete dies, daß die Inflationsrate wieder in den zweistelligen Bereich hochschnellt, bis zu 30 Prozent. Das ist ein Problem, weil die Realeinkommen der Bevölkerung in den letzten Jahren sehr stark rückläufig gewesen sind. Das birgt natürlich soziale und politische Gefahren. Außerdem wird der Haushalt zusätzlich belastet.

Welche Perspektiven sehen Sie unter Tschernomyrdin?

Rußland braucht jetzt junge Leute mit Energie und Phantasie. Dafür steht Tschernomyrdin nicht. Er wird zunächst einmal versuchen, in der Duma für eine gewisse Beruhigung zu sorgen. Sehr viel wird davon abhängen, wer seine Berater und Kabinettsmitglieder sein werden und ob sie freie Hand bekommen werden, um die Wirtschaftsreformen durchzusetzen. Wenn sich Tschernomyrdin nicht einmischt und die Arbeit den Experten überläßt, könnte diese Konstellation erfolgreich sein.

Was bedeutet der Regierungswechsel für die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem Westen?

Bisher neigte der Westen immer wieder dazu, Rußland unter die Arme zu greifen. Aber es hat sich erwiesen, daß diese Hilfe kontraproduktiv wird. Rußland verläßt sich immer stärker auf den Westen. Schon jetzt ist absehbar, daß im Jahre 2002, wenn der Schuldendienst wieder voll aufgenommen wird, Rußland nicht in der Lage sein wird, zu zahlen.

Wie soll es denn weitergehen? Zumal es ja die berechtigte Befürchtung gibt, daß auch große Teile der IWF-Milliardenkredite in dunklen Kanälen versickern.

Der Westen muß jetzt standhaft bleiben. Wenn er schon Hilfe in Form von Krediten leistet, muß das gezielt geschehen und an ganz klare Bedingungen geknüpft sein. Sonst sollte er darauf verzichten. Interview: Barbara Oertel