: Rußlands Präsident ist ausmanövriert
Mit dem Wechsel der Regierung hat Boris Jelzin nichts zu tun. Das besorgten andere – wie der Finanzier Boris Beresowski. Und Wiktor Tschernomyrdin fungiert bereits als Premier und Präsident in einer Person ■ Aus Moskau Barbara Kerneck
Ausgerechnet jenen Mann, den Rußlands Präsident Monate zuvor mit einem unsichtbaren, aber gut fühlbaren Faustschlag aus dem Amt entfernt hatte, um zu demonstrieren, wer der Herr im Hause ist, hat er am Montag als seinen eigenen Nachfolger empfohlen. Nicht anders sind die Worte zu verstehen: „Hinter diesem Vorschlag steht noch eine wichtige Überlegung, nämlich die Kontinuität der Macht im Jahre 2000 zu wahren.“ Im Klartext bedeutet dies, daß Boris Jelzin vor Wiktor Tschernomyrdin kapituliert hat, und zwar nachdem er zuerst vor dem eigenen Gesundheitszustand kapitulierte.
Der Präsident geriet in letzter Zeit sehr häufig aus dem politischen Blickfeld. Der große Urlaub im russischen Norden, der seine Glieder und Gedanken wieder hätte ins Lot bringen können, war ihm dennoch nicht vergönnt. Die Ereignisse warfen ihre Schatten voraus und zwangen ihn wiederholt, nach Moskau zurückzueilen. Dort dröhnte er falsche Prognosen in die Mikrophone: der Rubel werde auf keinen Fall abgewertet. Als dann doch eintrat, was nicht sein durfte, kollabierte Boris Jelzin offenbar und verkroch sich für eine weitere Woche unter der Bettdecke. Den Personen seiner nächsten Umgebung muß in diesem Moment glühendheiß eingefallen sein, wer den Präsidenten vertritt, falls er seine Handlungsfähigkeit verliert: der Ministerpräsident.
Die Vorstellung, sich plötzlich als Untergebener des jugendlichen und zu radikalen Maßnahmen neigenden Außenseiters Sergej Kirijenko wiederzufinden, schickte den Präsidentenberatern und Familienmitgliedern offenbar serienweise Schauer über ihre Rücken. Weitgehend übereinstimmende Insider-Berichte in den Moskauer Tageszeitungen erlauben uns heute, den Ablauf des Regierungswechsels zu rekonstruieren.
In der heiklen Situation trat ein Mann auf den Plan, den der Westen bereits als wandelndes Besetzungsbüro für alle möglichen Rollen in der russischen Politik kennt: Boris Beresowski. Der einstige Mega- Autohändler und heutige Finanzmann fungiert zur Zeit als GUS- Sekretär. Den Königsmacher spielte der Erz-Oligarch schon einmal 1996, als er eine Koalition von sieben Bankiers zusammenschmiedete, um Jelzins Präsidentschaftswahlkampf zu finanzieren. Aus jenen Zeiten ist er gut befreundet mit Jelzin-Tochter Tatjana Djatschenko und dem heutigen Leiter der Administration des Präsidenten, Walentin Jumaschew.
Die drei Personen machten sich auf die Suche nach einem Politiker ihres Vertrauens, der im Notfall als Präsident und Premier agieren könnte. Der Vorsitzende des Föderationsrates, Jegor Strojew, und Moskaus Bürgermeister Juri Luschkow wurden verworfen. Was Tschernomyrdin den Zuschlag verschaffte, war die schoßhündchenhafte Treue gegenüber Jelzin. Auch in den vergangenen Monaten der Ungnade kam er nicht auf die Idee, nach der Hand zu schnappen, die ihn schlug. Der Präsident würdigte dies in seiner Montagsadresse mit den Worten: „Weder die Macht noch der Rücktritt haben ihn verdorben.“ Der Clan des Präsidenten bezieht diese Vasallentreue auch auf sich, er rechnet mit ihr nicht nur jetzt, sondern auch für die Zukunft.
Am Samstag abend fuhren Tatjana Djatschenko und Walentin Jumaschow in die Residenz des Präsidenten, Gorki 9, mit zwei fertigen Ukas-Entwürfen: für den Rücktritt Kirijenkos und die Wiederernennung Tschernomyrdins. Unerwarteterweise leistete Jelzin nicht nur keinen Widerstand. Im Gespräch mit Tschernomyrdin am folgenden Tage erteilte er ihm sogar die Carte blanche für die Leitlinien der Politik und die Auswahl aller Minister. Tschernomyrdin verfügt damit heute über mehr Vollmachten, als er dank der Verfassung seinerzeit während der Bypass-Operation Jelzins beanspruchen durfte. Den ganzen Sommer hat er nach jedem Strohhalm gehascht, der ihm auf seinem Weg zum Präsidentenamt in den Kreml als Stütze dienen könnte. Mit Sicherheit wird er den ihm nun dargebotenen Balken nicht mehr loslassen. Ob Tschernomyrdin die ihm praktisch heute schon zugefallene Doppelfunktion als Premier und Präsident ganz souverän spielt, daran zweifelte die Tageszeitung Kommersant. Unter der Überschrift „Beresowski bildet das Kabinett“ beschrieb sie, wie Wiktor Tschernomyrdin sein altes Büro im Kreml wieder betrat. Zeugenberichten zufolge ging er dabei erst als zweiter durch die Tür – nach Boris Beresowski.
Vorgezogene Präsidentschaftswahlen sind damit allerdings nicht wahrscheinlicher geworden. Die Moskauer Tageszeitung Moskowski Komsomoljez meint, dazu könne es nur unter einer von zwei Voraussetzungen kommen: „1. Jelzin kann sich nicht mehr aus dem Bette erheben und keine zwei Worte mehr ausstoßen. 2. Er wird an irgendeinem Urlaubsort eingesperrt, wie Gorbatschow. Und zwar von seiner leiblichen Tochter und von seinem fast leiblichen Sohn Jumaschew.“ „Und das“, findet die Zeitung, „riecht doch ein bißchen allzusehr nach Shakespeare.“
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