: Zähle dich selbst!
Meuterei an der Basis: Nach dem Bankrott von Chance 2000 scheint Lotse Schlingensief verbittert von Bord gegangen – wenn er nicht gerade wieder voll einsteigt ■ Von Petra Kohse
Na, das war ein Schreck. „Ab morgen kann ich mich wieder meinen Ideen widmen – und nicht mehr irgendwelchem Bankscheiß“, sagte Christoph Schlingensief, Frontmann der Kunstpartei Chance 2000, zum erwünschten Verkauf der Partei wegen Geldnot. War die bereits zur Bundestagswahl zugelassene Partei der letzten Chance für „Arbeitslose, Behinderte und andere Minderheiten, die zusammen die Mehrheit bilden“ etwa nicht seine Idee gewesen? Hat der staatstheaterverwöhnte Künstler nicht die Kraft, erneut seine Sponsoren (Joop, Biolek) anzugraben, obwohl es um die gute, die politische Sache geht? Das war am Montag.
Am Dienstag nachmittag gegen vier Uhr distanzierte sich die Geschäftsführung von Chance 2000 dann per Fax vom „chaotischen Führungsstil des Vorstandes“. Gegen fünf Uhr nachmittags zog sie das Schreiben telefonisch wieder zurück. Die Homepage aber läßt keinen Zweifel am tiefen Zerwürfnis. Schon letzte Woche verschwanden die lustigen Fotoromane mit Christoph Schlingensief in jeder Pose, endeten die Fortsetzungsschnipsel aus dem Tagebuch von C-Punkt-S-Punkt und seine charmanten Appelle an die Unterstützer dieser Welt („Rettet den Kapitalismus, gebt uns euer Geld!“).
Statt dessen versichern auf www.chance2000.com jetzt weiß auf schwarz die Landesverbände, „mit allen legalen Mitteln“ den drohenden Konkurs der Partei verhindern zu wollen, und zwar bis Donnerstag, also gestern. Die Partei sei weiterhin zu verkaufen, „zwei seriöse Interessenten“ gebe es schon. Ferner werde sich ein „Thinktank“ gründen, der sich Ende der Woche der Öffentlichkeit präsentiert. „Chance 2000 ist tot, es lebe Chance 2000!“
Der rhetorische Eleganzverlust bringt es an den Tag: Der augenblickliche Rückzug der Propagandaelite von Chance 2000 ist Teil des Konzepts. Leute wie Schlingensief oder der Dramaturg Carl Hegemann würden ausgefeilte Parolen wie „Beweise, daß es dich gibt“ und „Jeder hat recht“ auch bei noch soviel Überdruß nicht zurückziehen, um hölzernem Bewegtensprech das Feld zu überlassen. Dieses Chaos hat Methode.
Am Donnerstag gegen elf Uhr ist Carl Hegemann auf dem Weg zur Volksbühne und wie immer guten Mutes. Natürlich mache Chance 2000 weiter, allerdings sei die Parteiarbeit tatsächlich durch „Geldknappheit blockiert“, deswegen der Verkauf. Schon habe ein Anwalt seine Dienste erboten, einen Parteienverkauf als Präzedenzfall durchzufechten, wäre doch irre, wenn das klappte, auch daran könne man zeigen, „wie Wirklichkeit funktioniert“. Und die sog. parteiinternen Differenzen? Ach, er sei gestern nicht dagewesen und gar nicht informiert, es gehe drunter und drüber, aber am Samstag sei eine Pressekonferenz, da werde alles erklärt.
Akte drei bis fünf: Höhepunkt, Auflösung, (glückliches) Ende – das Leben ist ein Chanson und die Wirklichkeit auch in Prenzlberg ein bürgerliches Drama. Nach der Zulassung zur Bundestagswahl hat Chance 2000 die Wahlkampfaktivitäten offenbar zunächst nach innen gerichtet. Daß Menschen sagen „Christoph, wir sind extra wegen dir gekommen“ wie in St. Gilgen beim Konzeptbaden im Wolfgangsee, verträgt sich schließlich nicht mit der Parole „Wähle dich selbst“. Daß behinderte Direktkandidaten ins Internet schreiben: „Chance 2000 darf nicht sterben, weil ich noch immer kandidiere!“ (Axel Silber) aber schon.
So bleibt Chance 2000 als Medium eben immer die Botschaft. Ist nicht nur Teilnehmerin, sondern auch Schulschiff der Regatta der Vorder- und Hinterbänkler und fängt bei sich zu Hause an. Was bleibt von der Demokratie, wenn Papa nicht da ist, wer erhebt das Wort, wenn Christoph Schlingensief schweigt? Und vor allem: Wer wird dich wählen, wenn du nicht aussiehst wie ein Schwiegersohn?
Das aktuelle Zwischenergebnis des Feldversuchs ist ein zwiespältiges. Daß die mediale Attraktivität der Restchancler gleich null ist, hat sich durch den zeitweiligen Rückzug Christoph Schlingensiefs ebenso erwiesen wie ihr konsensschwangerer Wille zum Überleben. Unversehens könnte also, was eben noch ein Medienzirkus war, zur Bürgerbewegung werden. Aber wer kann das ernsthaft wollen? So steigt der Christoph – während dies geschrieben wird, laufen die Verhandlungen – wohl wieder ins Boot, um den ersten Parteiverkauf der Bundesrepublik zu katalysieren, und seine Basis wird ihm die Laune wie die Lektion verzeihen. Was nützt es auch, tausend Volk zu sein, wenn es an der Stimme fehlt. Und sollte dem einen oder anderen aus der Chance- Basis die SPD jetzt in neuem Licht erscheinen, ist das Privatsache und hat mit der Parteiarbeit nichts zu tun. Die Wahrheit ist schließlich irgendwo da draußen.
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