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Russen geben keine Kopeke für Jelzin

■ Während der Rubel unaufhaltsam verfällt, kursieren Gerüchte über einen baldigen Rücktritt des Präsidenten. Kommission will den Staatschef und den Markt zügeln. Verstaatlichung und Inflation sollen die Probleme lösen

Moskau (dpa/AFP/taz) – In Moskau gab es gestern nur zwei Themen: Gerüchte über Jelzins Rücktritt und die Beschaffung von Geld. Doch nur letzteres kümmert die Russen wirklich. Sie üben sich im Überlebenskampf. Vor Banken und Wechselstuben bildeten sich gestern immer längere Schlangen. Die Menschen versuchten verzweifelt, ihre Einlagen abzuheben – oft erfolglos. Der Dollarkurs stieg an den wenigen geöffneten Wechselstuben bis auf mehr als zwölf Rubel pro Dollar. Selbst diese fast 100prozentige Abwertung binnen zehn Tagen schreckte viele nicht ab, ihre Rubel zu verkaufen.

Derweil verkroch sich Rußlands Staatschef Boris Jelzin in seiner Residenz Rus, etwa 100 Kilometer von Moskau entfernt. Der US-Fernsehsender CBS meldete gestern abend unter Berufung auf Kreml- Kreise, Jelzin habe ein undatiertes Rücktrittsschreiben unterzeichnet. Zuvor hatte Kreml-Sprecher Sergej Jastrschembski Gerüchte über einen bevorstehenden Jelzin-Rücktritt als „absolut müßiges Gerede“ abgetan. Für heute hat Jelzin ein Gespräch mit dem bulgarischen Präsidenten und eine Pressekonferenz angekündigt.

Die Wirtschaftszeitung Kommersant daily kommentierte fatalistisch: „Im Prinzip ist es nicht mehr wichtig, wo genau der Präsident den Tag verbringt – im Krankenzimmer oder in der Residenz Rus. Es ist doch allen klar, daß er real nicht mehr in der Lage ist, das Land zu führen.“ Seine Kompetenzen sollen künftig stark eingeschränkt werden: Eine vom Kreml gebilligte Dreierkommission aus Vertretern beider Parlamentskammern und der geschäftsführenden Regierung legte eine Vereinbarung vor, nach der er sich nicht mehr in die Politik der Regierung einmischen dürfe. Demgegenüber sollen die Befugnisse der Duma ausgeweitet werden, insbesondere bei der Regierungsbildung.

Auch an Ideen für die Wirtschaftsförderung mangelt es der Kommission nicht. Ein Antikrisenprogramm sieht vor, daß der Staat die Liquidität der vom Zusammenbruch unmittelbar bedrohten Geschäftsbanken durch Drucken von Banknoten und mit Hilfe der Reserven der Zentralbank, die diese nicht hat, wiederherstellen soll. Bis zum 1. März 1999 soll ein Gesetz über die Verstaatlichung von Unternehmen mit strategischer Bedeutung ausgearbeitet werden.

Um den rapiden Kursverfall der Landeswährung Rubel aufzuhalten, setzte die russische Notenbank den Rubelhandel für gestern und heute erneut aus. Die Aktienkurse in Moskau sackten um 17 Prozent auf ein Rekordtief ab. Auch weltweit gingen die Kurse deutlich zurück. In Frankfurt lag der Dax nur noch knapp über der 5.000er-Marke. Wallstreet hatte bei Redaktionsschluß vier Prozent verloren.

bo

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