: Liebe und Schnaps als Pfadfinder durch die Fremde
■ „Gadjo dilo“ im Cinema: Ein algerischer Regisseur erzählt von einem Franzosen unter Zigeunern in Rumänien
Ein großer Film. Beginnen tut er allerdings ganz klein, fragmentarisch, zerfranst, bar einer satten story. Doch nur Geduld, fiktiver Zuschauer, nach einer halben Stunde kommt der Film; und unversehens ist am Ende alles da, starke Liebe, eine entsetzliche Tragödie und ein paar Erkenntnisse obendrein. Auch Stéphane, der Held des Films, kommt. Und zwar nach Rumänien – aus erzsentimentalen Gelüsten. Der junge Franzose sucht in der Fremde eine gewisse Nora Luca. Nichts weiß er von dieser Romasängerin, außer, daß eines ihrer Lieder seinen Vater in den Tod hinüberbegleitet hat – manche Leute haben eben seltsame Gründe für Entdeckungsreisen. Doch am Ende dieses Entwicklungsromans zerstört Stéphane feierlich seine mühsam zusammengetragene Sammlung ethnologisch wertvoller Tondokumente – und begräbt sie nach Zigeunersitte saufend, tanzend und weinend. Die Kultur der Roma ist für ihn nicht länger nur skurril-amüsantes Studienobjekt, sondern Teil seines Lebens. Er hat den Roma in sich erweckt. Und das heißt, zumindest für Regisseur Tony Gatlif, Heftigkeit, heftige Trauer, heftiges Lachen, heftige Liebe. Schon die Kids reden mit Vor-Liebe vom Es-miteinander-treiben, (nur fast) so befreit wie im Westen des Videoclipzeitalters.
Zurück zum Filmbeginn. Da sehen wir Stéphane einsam in einer flachen Wüste aus unendlichem Schneematsch. Er grinst und tanzt die Leere an, doch die Leere lacht nicht zurück. Er dreht sich, und die Leere dreht sich mit. Nicht weniger seltsam als diese Begegnung mit einer Landschaft, ist die mit den Roma. Zahnlücken und Silberzähne grinsen ihm entgegen. Nur notdürftig wird das Kommunikationsmittel Sprache durch das Verbrüderungsmittel Schnaps ersetzt. Starke aber unverständliche Gefühlswalllungen prasseln laut und derb auf Stéphane ein: Die einen halten ihn für einen potentiellen Kinderdieb und Frauenschänder. Doch der alte, zerfurchte Izidor, der seinen eigenen Sohn gerade für ein halbes Jahr an irgendeine Gefängniszelle abgeben mußte, verliebt sich in den Gadjo, den Fremdling. Warum? Mit welchen Absichten? Irgendwann hört Stéphane auf, profan nach Gründen zu fragen.
Und auch der Zuschauer nimmt mit der Zeit ebenso fraglos wie staunend zur Kenntnis, daß sich Menschen haareraufend auf das Grab entfernter Bekannter werfen, daß sich Weinen und Lachen in Sekundenschnelle abwechseln können, daß Izidor wortstark und mit allerbestem Gewissen die Liebesdienste junger Mädchen einfordert – zur Bewältigung seiner Altersmelancholie. Ein Multikultiidyll ist mit diesen fremdartigen Wesen nicht zu haben. Eine Lebensschule schon eher.
Unorthodox Tony Gatlifs Produktionswise: In der Tradition französischer Dokumentarfilmer spulte er nicht ein fixes Drehbuch ab, sondern schubste zwei professionelle Schauspieler in ein Zigeunerdorf kurz vorm Weltende; er sah zu, wie sich wunderten, kommunizierten, wunderten, kommunizierten... Echtes Staunen wollte er filmen. Ach ja, die Erkenntnisse: Daß in der Fremde Alkohol weiterhilft – und eine gewisse Grundausstattung an gesundem Wahnsinn. bk
Im Cinema, täglich um 21 h
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