: Rußland stabil: Keiner stürzt den andern
■ Kreml, Parlament und Premier schließen „Stabilitätspakt“, der Boris Jelzin einen Teil seiner verfassungsmäßigen Rechte nimmt. Zugleich verzichtet die Duma auf ein Mißtrauensvotum gegen den angeschlagenen Präsidenten
Moskau (dpa/rtr/taz) – Vorläufiger Burgfrieden in Rußland: Gestern einigten sich Vertreter des Kreml, die geschäftsführende Regierung und das kommunistisch dominierte Parlament auf einen sogenannten Stabilitätspakt. Kern ist, daß Boris Jelzin auf einen Teil seiner verfassungsmäßigen Vollmachten bei der Regierungsbildung verzichtet und dem Parlament mehr Mitbestimmung einräumt. Künftig solle das Kabinett vom Regierungschef mit Zustimmung des Parlaments gebildet werden, sagte der Duma-Vorsitzende Gennadi Selesnjow. Nur die Ernennung der sogenannten starken Minister für Verteidigung, Inneres, Äußeres sowie des Geheimdienstchefs liege weiter beim Präsidenten. Das Parlament müsse auch von bevorstehenden Entlassungen von Ministern in Kenntnis gesetzt werden. Unklar war zunächst, wie weit Jelzin mit Erlassen in die Entscheidungen von Parlament und Regierung zur Kabinettsbildung eingreifen darf. Der Präsident will sich heute zu dem Kompromißpapier äußern.
Eine Änderung der Verfassung, die eine Kommission binnen eines Monats ausarbeiten soll, ist mit langwierigen Formalitäten verbunden. Änderungen müßten neben der Duma und dem Föderationsrat auch zwei Drittel der 89 Regionalparlamente Rußlands zustimmen.
Ferner verpflichten sich Präsident und Duma in einem Moratorium bis zu den Duma-Wahlen Ende 1999 zu Stabilitätsgarantien. Der Präsident werde die Duma nicht auflösen. Die Duma verzichte auf ein Mißtrauensvotum. Die Regierung werde ihrerseits nicht die Vertrauensfrage stellen. Auf Druck der Kommunisten wurde außerdem eine stärkere öffentliche Aufsicht über staatliche Medien vereinbart.
Die Duma erklärt sich in dem Abkommen bereit, vorrangig die Antikrisengesetze zu verabschieden. Dabei wird es nicht mehr um das Programm von Ex-Premier Kirijenko gehen, sondern um die von einer Kommission ausgearbeiteten Vorschläge für eine dirigistische Wirtschaftspolitik mit Verstaatlichungen wichtiger Unternehmen und Geldemissionen zur Bezahlung der Binnenschulden.
Demgegenüber versicherte der designierte Regierungschef Viktor Tschernomyrdin, daß Rußland an einer Reformpolitik festhalten wolle. Der Rubel werde trotz dramatischen Wertverlusts konvertierbar bleiben, die Ersparnisse der Bevölkerung würden geschützt. Die Regierung werde hart gegen vom Zusammenbruch bedrohte Banken vorgehen. „Wir sind schon ein Teil der Weltwirtschaft, und eine Rückkehr zur Vergangenheit wird es nicht geben“, sagte Tschernomyrdin.
Daran scheint derzeit auch noch Bundeskanzler Kohl, der gestern mit Jelzin telefonierte, zu glauben. Seine Hoffnungen richteten sich weiter auf Tschernomyrdin. Allerdings sei in der Duma die Einsicht, daß nur über Reformen die Zukunft zu gewinnen sei, „nur sehr bedingt entwickelt“. Deshalb werde es darauf ankommen, „daß gerade wir Deutschen, und das gilt auch für mich persönlich, unseren Einfluß nutzen, Jelzin und seinem Stab immer wieder zu sagen, daß sie ohne Reformen nicht aus der Krise herauskommen werden“, sagte Kohl in einem Interview mit der Welt am Sonntag. Gleichzeitig machte er die Erfüllung der Auflagen des Internationalen Währungsfonds (IWF) zur Bedingung für weitere Rußland-Kredite. Die Finanzkrise wird auch im Mittelpunkt der Gespräche zwischen US-Präsident Bill Clinton und Jelzin stehen. Clinton wird heute zu einem mehrtägigen Besuch in Moskau erwartet. Tagesthema Seite 3, Wirtschaft Seite 9,
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