: Marvin Gaye in der Hutschachtel
■ Obwohl Lotte Ohm Neuerungen der 90er Jahre mißversteht, hat er eine nicht-metropolitane Schule von Einzelgängern begründet
Das eine muß man Vincent Wilkie zugestehen: Er hat, unter seinem Künstlernamen Lotte Ohm, eine Art neue Schule der Popmusik in Deutschland begründet. Eine Schule, die keinen Städtenamen trägt, weil sie von Einzelgängern an verstreuten Orten des Landes begründet wurde. Vincent Wilkie hat Das Ohmsche Gesetz, sein zweites Album und das erste für eine Major-Firma, zu Teilen zwar in Hamburg aufgenommen, vor allem aber in Regensburg und Heilbronn. Geholfen hat ihm dabei der Münsteraner Gautsch, sein Muster-Mitschüler. In all diesen Orten gibt es MTV-Empfang, Kioske, die die Spex führen, Plattenläden und Händler für elektronische Musikinstrumente. Was es dort nicht zu geben scheint, ist ein sozialer Kontext, in dem musikalische und textliche Ideen diskutiert werden. Und dann kommt sowas raus.
Die Schule, für die Lotte Ohm, Gautsch, Kirmes und vermutlich etliche noch unentdeckte junge Männer in anderen Nicht-Metropolen stehen, ist entstanden unter dem Einfluß zweier musikalischer Neuerungen der Neunziger, die mit den Namen Beck und Blumfeld verbunden sind. Blumfeld steht hierbei nicht nur für die Wiederverwendung deutscher Sprache, sondern auch für das Finden eines eigenen Ausdrucks unter Verwendung von Gehörtem, Gelesenem, Zitiertem.
Jedoch: Wo bei Jochen Distelmeyer sowohl die Emotionalität von Pop als auch ein klar politischer Antrieb stehen, bringt Vincent Wilkie nur eitles, selbstverliebtes Wortgeklingel zustande. „Der Tag, an dem ich bemerkte, daß Marvin Gaye in meiner Hutschachtel wohnt“ heißt dann ein Lied – das soll wohl popgeschichtlichen Kenntnisreichtum zeigen. Und beim Hören des Bewußtseinsstroms, der nur nach zuviel Kiffen den Titel „Die Memoiren des Steven Spielberg“ bekommen haben kann, wünscht man sich sogar den Comic-Trash der Allwissenden Billardkugel zurück. Dagegen hatten die direkt viel zu sagen.
Sagt uns denn dann vielleicht die Musik etwas? Äh, eher nicht. Hier kommt eben Beck ins Spiel, der gezeigt hat, daß Techniken aus dem HipHop oder anderen elektronischen Musikformen mit Indie-Rock, Blues oder potentiell allen möglichen Stilen zu verbinden sind. So begrüßenswert die Öffnung von Möglichkeitshorizonten auch ist, so sehr droht eben auch die Beliebigkeit. Lotte Ohm produziert manchmal einen recht hübschen Gitarren-Pop-Song mit Moog-Blubbern, meistens aber schergeln die Gitarren, und die Beats lachen sich selber aus. Felix Bayer
Mo, 7. September, 21 Uhr, Knust
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