piwik no script img

■ Die Lage in Rußland erscheint derzeit als totales Desaster. Doch gerade die Krise des Präsidialsystems ist eine Chance für die DemokratieWas kommt nach Jelzin?

Der Absturz der russischen Wirtschaft und Jelzins mögliche Entmachtung wecken apokalyptische Ängste. Aber Panik verhindert nüchterne Einschätzungen. Wie jede Krise schafft auch diese Chancen, die Lage zu verbessern. Es gibt Anlaß zu Optimismus.

Tatsächlich schien lange Zeit nur Jelzins starke Position den Aufbau eines russischen Kapitalismus zu ermöglichen – sei es in der radikalliberalen Variante von Nemzow und Kirijenko oder in der sowjetisch geprägten Variante Tschernomyrdins. Nur der direkt gewählte und damit besonders legitimierte Präsident konnte die Reformen vor einer Bevölkerung schützen, die Veränderungen vor allem erlitt und bei Parlamentswahlen antidemokratische Kandidaten bevorzugte.

Aber dieser Präsident war alles andere als ein Demokrat, und in Wirtschaftsdingen hatte er weder Kenntnisse noch Überzeugungen; sie interessierten ihn vor allem unter dem Aspekt des persönlichen Machterhalts. Seine Gegner suchte er zu integrieren oder unschädlich zu machen. Das ihm feindlich gesonnene Parlament ließ er 1993 beschießen und sich dann eine Verfassung schreiben, in der es machtlos war. Jelzins Dekrete blieben oft unbeachtet, aber sie reichten. So verlegten sich die Abgeordneten wie Pubertierende aufs Stören. Sie waren oft verantwortungslos, weil sie daran gehindert waren, Verantwortung zu übernehmen; sie waren der burleske Hintergrund der Palastdramen im Kreml.

Dieses Spiel geht nun zu Ende, ohne daß klar ist, was auf den Spielplan kommt. Aber diese Unsicherheit enthält auch Chancen. Wenn es dem Parlament gelänge, dem Präsidenten wirkliche Macht abzutrotzen, wenn es zu einer wirklichen Legislative würde, die über Gesetze die Exekutive kontrollieren kann – dann wäre das ein Fortschritt. Auch die Parlamentsmehrheit, deren demokratische Überzeugungen dubios sind, würde sich durch einen Kompromiß binden. Und schließlich waren ja alle dauerhaften politischen Institutionen das Produkt von Kompromissen, durch die Machtkämpfe stillgestellt wurden.

Sicherlich gibt es auch Risiken. Jelzin hat seine große Machtfülle nicht zu Terror und Unterdrückung ausgenutzt. Rußland hat unter ihm eine Zeit der Freiheit durchlebt wie seit 1917 nicht mehr. Aber die Angst, daß sein Nachfolger ein Bösewicht sein könnte, ist ja nur deshalb begründet, weil der Präsident der Verfassung nach fast allmächtig ist. Sie kann nicht weichen, solange das Schicksal des Landes von einigen Mikroben abhängig scheint, die sich in den Leib des Herrschers einschleichen könnten. Allerdings wurde der Aufbau demokratischer Institutionen durch die übermächtige Position des Präsidenten blockiert. Jede sich abzeichnende Alternative zu Jelzin erschien als historische Gefahr. So gewann Jelzin 1996 nur, weil die Alternativen noch unerfreulicher waren und weil er einem Volk, das Wunder erhoffte, Wunder versprach.

Auch die Reform der Wirtschaft blieb stecken. Denn in einer überstürzten Marktfreigabe und Privatisierung entstanden Machtkartelle, die den Aufbau der institutionellen Voraussetzungen einer Marktwirtschaft verhinderten. So erschien der Kapitalismus der Bevölkerung nicht als Wirtschaftsordnung, sondern als ein Verfahren gnadenlosen Diebstahls.

So hat die jetzige Krise die Schieflage der russischen Wirtschaft nur verschärft, nicht geschaffen und den Unmut nur neu angeheizt, nicht geweckt.

Aber auch die neuen wirtschaftlichen Herrschaftsverhältnisse blockieren weitere Reformen. Der überbewertete Rubel erleichterte Importe von Waren, die sich auch in Rußland hätten herstellen lassen. Es profitierten die Exporteure der Rohstoffe und die Importeure ausländischer Konsumgüter. Die – vom IWF unterstützte – Politik des knappen Geldes hatte zu einer solchen Geldknappheit geführt, daß die Binnenmärkte weitgehend nicht mittels Geld, sondern als Produktentausch funktionierten.

Der Staat hatte kaum Einnahmen und zahlte keine Löhne. Polizisten und Lehrer mußten sich, um zu überleben, nach Zweitbeschäftigungen in der Schattenwirtschaft umsehen. Korruption wurde überlebensnotwendig. Auch die von den Machtkartellen betriebenen Unternehmen zahlten vielfach keine Löhne; die Proteste dagegen wurden kriminalisiert oder als „kommunistische Sehnsucht“ verurteilt. Kein Wunder, daß solche Sehnsüchte aufkamen.

Andererseits konfiszierte das absurde Steuersystem produktives Kapital. Keine Firma konnte ohne Steuerhinterziehung überleben. Aber das war nicht schwierig. Die Schattenwirtschaft, die mindestens drei Viertel des Gesamtvolumens umfaßt, zahlte sowieso keine Steuern. Die übrigen konnten sich am Fiskus vorbeibewegen. Als die jungen Liberalen in diesem Jahr hier Ordnung schaffen wollten, hatten sie nicht nur die altsowjetischen Großmanager gegen sich, sondern auch die neuen Finanzmagnaten, von denen sie bislang unterstützt worden waren. Eine der ersten Handlungen Tschernomyrdins war es auch, die neu erhobenen Steuerforderungen an sein altes Unternehmen Gasprom sofort wieder zu senken.

Die Finanzmagnaten verärgerte Kirijenko durch die Forderung, die staatlichen Kreditaufnahmen zu beenden, weil die steigenden Zinsverpflichtungen die Spielräume der Regierung immer weiter einschränkten. Nach der wilden Privatisierung der Rohstoffe drohte nun die Privatisierung des Staates überhaupt. Kirijenkos vernünftige Forderung weckte bei den Großbanken, die an der Staatsverschuldung verdient hatten, die Furcht vor Einkommensverlusten; den Pipelines, durch die staatliche Gelder auf Privatkonten gepumpt wurden, drohte die Austrocknung. Jetzt erst zeigte sich, wie schwach gegenüber einem Bündnis der beiden Machtgruppen nicht nur der Präsident, sondern das Gemeinwesen ist.

Angesichts dieser Konstellation kann eine Krise eine Chance bedeuten. Ein Zusammenbruch des aberwitzigen Bankensystems kann einen realistischen Blick auf die russische Wirtschaft öffnen. Die nüchterne Neubewertung des Rubel könnte eine Rückkehr Rußlands zur Geldwirtschaft und damit ein wenig wirtschaftliche Rationalität befördern.

Die gegenwärtige Krise könnte trotz aller materiellen Härten also vorsichtig optimistisch stimmen, weil sie die Hindernisse der Reformen schwächt und Institutionalisierungsprozesse fördert. Allerdings bedürfte es auch eines politisch organisierten Willens, die Reformen in Angriff zu nehmen. Und da darf man wieder pessimistisch sein. Erhard Stölting

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen