Danke
: Das unheimliche Auge

■ An alle, die überhaupt nicht durchsehen: Geht nachdenklich zur Bundestagswahl!

„Der Handelsbilanzüberschuß ist in den vergangenen Jahren politisch stärker geworden, ihre Isolierung ist aufgebrochen, die gesellschaftspolitische Defensive der linken Kräfte jedoch nicht überwunden. Es darf keine Aufweichung des Stabilitätspaktes und keine politische Einflußnahme auf die Politik der SED, ihren entmündigenden Charakter und ihr Scheitern wissen und aus den Fehlern unserer Geschichte lernen.“ Klaro?

Nee, nee, liebe Freunde, so einfach ist das alles nicht. Wir sehen hier einen Teil einer Wahlkampfrede, verfaßt von Phrasendrescher 3.0. Einer Software, die nach dem Zufallsprinzip zu gleichen Teilen Brocken aus CDU-, DVU-, FDP-, Grünen-, PDS- oder SPD-Programm herausnimmt und neu zusammensetzt. Daraus entsteht dann eine Ansprache wie oben zitiert. Phrasendrescher 3.0 will uns sagen: Alles ist auswechselbar, neu kombinierbar, alle Parteien dreschen die gleichen Phrasen, Politik ist Sülze, Politiker sind Kasperköppe.

Was das wirre Resultat von Phrasendrescher 3.0 betrifft, so sollten wir schleunigst Schlüsse ziehen: 1. Software hält oft nicht das, was sie verspricht. 2. Verschiedenes politisches Vokabular ist nur mit dem Resultat von noch größerem Unsinn untereinander kompatibel. 3. Keine vorschnellen Urteile über die Welt der Politik.

In die gleiche Kerbe schlägt auch Helmut Kohl. Er hat erst vor kurzem völlig zu Recht darauf hingewiesen: „Geht nachdenklich zur Wahl!“ Ich gehe jeden Morgen zu Frau Meyer Milch holen und bin da schon sehr nachdenklich, gerade auch nach meinen Erfahrungen mit Phrasendrescher 3.0. Auf dem Plakat von Marianne Birthler zum Beispiel lese ich dann „Gegen Politik hilft nur Politik“. Ich weiß nicht – trotz Abitur, Hochschulabschluß und Auslandsaufenthalt –, wie sie das meint. Aber ich bin nachdenklich. Auf einem anderen Plakat lächelt FDP-Matz, Martin aus seinem Cabrio und darunter steht: „Das Auge wählt mit“. Ich frage mich, wie zum Teufel der Mann, der so aussieht, wie er heißt, auf die Idee kommt, daß er ein liberaler Dreamboy und Hallodri sei. Aber ich denke nach und will nicht zu schnell urteilen.

Und wenn mich dann am Abend Theo Waigel anbrüllt „Freiheit oder Sozialismus!“, verstehe ich zwar die Welt nicht mehr, aber mein Gehirn arbeitet. Handelsüberschuß? Isolierung? Das unheimliche Auge?

Ich denke, 17 Tage vor der Wahl wartet noch viel Arbeit auf uns alle. Kohl und Phrasendrescher 3.0 haben uns auf den richtigen Weg gebracht: Wir müssen runter vom hohen Roß, weg von der eigenen Phrase der Politikverdrossenheit. Erst dann werden wir die Meta-Ebenen der Plakatlosungen entschlüsseln können, die verborgene Schönheit so mancher Kandidaten entdecken und die richtige Wahl treffen. Andreas Lehmann

Lehmann ist freier Autor in Ostberlin