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Meer zum Anfassen

■ Kannibalismus und Interaktion: Eine Retrospektive in Brüssel erinnert an die 1988 verstorbene brasilianische Künstlerin Lygia Clark

Die Frau hält eine durchsichtige, sorgfältig verschlossene Plastikhülle in den Händen. Sie ist zur Hälfte mit Wasser und kleinen Muscheln gefüllt. Ein Gummi teilt die Tüte locker in zwei etwa gleich große Kammern. Langsam bewegt die Frau das Objekt zwischen den Händen hin und her: Die Muscheln sinken wie Sand in einem Stundenglas nach unten. Dabei stoßen sie aneinander; das Geräusch erinnert an Meeresrauschen. Solche scheinbar belanglosen Experimente dachte sich Lygia Clark aus, um mehr als den fünf Sinnen auf die Sprünge zu helfen. Die Objekte und Settings der Künstlerin haben immer eine auffällige haptische Dimension und machen den Rezipienten zum Akteur. Die Präsentation ihres ×uvres im Brüsseler Palais des Beaux- Arts erlaubt den Eigenversuch: die Arbeit „Água e conchas“ („Wasser und Muscheln“) von 1966 liegt neben anderen Tastobjekten auf Tischen aus; es ist, als würde man tatsächlich das Meer anfassen.

Bereits im vergangenen Jahr hatte die documenta X in Kassel körperbezogene Arbeiten der 1988 gestorbenen Künstlerin gezeigt: paarige, durch einen Gummischlauch verbundene Ganzkörperanzüge ohne Sichtfenster, bei denen das Gegenüber ausschließlich ertastet werden kann, und die „Máscaras sensoriais“ betitelten Kapuzenmasken mit verschiedenen präparierten Öffnungen für Augen und Ohren. Bewiesen diese Arbeiten im intellektuellen Umfeld der documenta eine besondere Sensibilität für Körperraum und Wahrnehmungsprozesse, so läßt sich diese Disposition nun am Gesamtwerk ausführlich studieren. Bereits an den nonfigurativen Arbeiten der 50er Jahre, der Serie „Quebra da moldura“ („Zerstörung des Rahmens“) und den „Superficies moduladas“ („Modulierte Oberflächen“) überrascht die Unverfrorenheit, mit der Clark den traditionellen Bildbegriff verabschiedet. Statt langweiliger Homogenität interessiert sie die serielle Variation, die überbordende Peripherie statt des sterilen Zentrums.

Dieser dynamische Konstruktivismus entsprach durchaus einer generellen Stimmung der Kunst, in der Pollocks „Drip paintings“ oder Yves Kleins „Anthropometrien“ entstanden. Bei Fernand Léger hatte Lygia Clark in Paris studiert, in Brasilien gründete sie 1959 mit Hélio Oiticica die Gruppe der Neokonkreten und definierte ihre geometrischen Gebilde fortan als „Estruturas vivas“: Solche, im Sinne einer biologischen Architektur „lebenden Strukturen“ sind die zu Beginn der 60er Jahre gefertigten „Bichos“, bewegliche Metallkreaturen aus Kreissegmenten und Vierecken, die durch Scharniere verbunden sind.

Dieses bewegliche „Rückgrat“ erlaubt dem Rezipienten, die Objekte zu manipulieren, ihnen tierähnliche Metamorphosen abzugewinnen. Bei den „Obras mole“ dagegen produziert das Eigengewicht des elastischen Materials die plastische Form: Die schlaffen, aus einer Gummischeibe geschnittenen Moebiusbänder hängen – Robert Morris' „Skulpturen“ aus Filz oder Eva Hesses Latex-Objekten vergleichbar – von der Wand herunter oder mäandern wie Schlingpflanzen auf dem Boden.

Biologische Texturen bezieht Clark immer stärker auf rituelle Handlungsmuster und psychologische Prozesse. In den 70er Jahren experimentiert sie mit Studenten der Pariser Sorbonne an Formen gestischer Kommunikation. Die Brüsseler Schau baut denn auch räumliche Arrangements nach und versammelt Materialien und Utensilien, die Clark für ihre haptischen Experimente verwendet hat: Plastikfolien, Netze, Gummibänder, Schläuche, Steine, Bälle, Handschuhe – allesamt „Designs for Living“. Auch hier im Museum ist der Besucher aufgefordert, damit eigene körperliche Erfahrungen zu machen. Doch das „authentische“ Setting erinnert eher an Kaufhauswühltische, zumal es die Fetischisierung der Alltagsgegenstände begünstigt. Der meterlange Stoffschlauch ihrer Arbeit „Túnel“, in den Probanden hineinkrochen und sich einpuppten, liegt wie ein toter Lindwurm auf dem Museumsparkett.

Schwer tut sich die Retrospektive auch mit den kollektiven Aktionen der Künstlerin und ihrer therapeutischen Praxis. Film- und Fotodokumente müssen zwangsläufig die prozessualen Arbeiten ersetzen; ihre Brisanz kann man sich nur vorstellen. Die „kannibalistischen“ Körperexperimente, die physische Austauschprozesse – vom „Verschlingen“ bis zum „Erbrechen“ – zum Vorbild haben, werden ausschließlich über Filmstills dokumentiert. Das gestische Vokabular des Kannibalismus benutzten Clark und andere brasilianische Künstler, um die Verwertung der westlichen Kolonialkultur in der traditionellen eigenen als Körperpolitik erfahrbar zu machen. Besonders das Projekt „Objetos relacionais“, wo durch das Berühren der Haut mit verschiedenen Objekten und Materialien ein individuelles Körpergedächtnis initiiert wird, stand rituellen (Heil-)Praktiken und Erlebnisweisen nicht fern.

Im Unterschied zu Performance und Body-art, die den Künstler verabsolutierten, sind diese Arbeiten jedoch nicht dem artistischen Selbsterfahrungskult der 60er und 70er Jahre geschuldet. Clark verstand sich als Initiatorin von Erfahrungsprozessen, in denen die Hauptrolle den Beteiligten zukommt. Sie strickte nicht an einer Privatmythologie, sondern weckte das Bewußtsein für anthropologische Wahrnehmungsmuster. Schade, im Sinne der Künstlerin, ist nur, daß sich diese Einsicht in der Brüsseler Schau nicht auf haptischem Wege, sondern per Filmbild einstellt. Petra Löffler

Lygia Clark, bis 27.9., Palais des Beaux-Arts, Brüssel. Die ausführliche Monographie kostet 90 DM.

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