: Der Bankrott der Eliten
■ Der Versuch, Rußland eine liberale Wirtschaft überzustülpen, ist gescheitert. Das Land bewegt sich auf eine Art Kriegskommunismus zu
Vor sechs Jahren verkündete Anatoli Tschubais feierlich, daß der Kommunismus in Rußland endgültig tot sei. Und wirklich: Der maßvoll autoritäre Breschnew- Gorbatschowsche Kommunismus wird nicht zurückkehren. Dafür droht eine Art Kriegskommunismus. Vor allem, weil die „Reformer“ dabei sind, dafür alle nötigen Voraussetzungen zu schaffen.
Vor achtzig Jahren führten die Bolschewisten in Rußland den staatsadministrativen Kriegskommunismus ein. Eine Notmaßnahme. Die Wirtschaft war zerstört, alle Geschäftstätigkeit eingestellt, der Geldverkehr desorganisiert, das Transportwesen lahmgelegt. Das Wichtigste: Die alten herrschenden Klassen waren komplett unfähig gewesen, die Lage zu normalisieren.
Das heutige Rußland bewegt sich in eine ähnliche Richtung. Die sich ablösenden „liberalen Regierungen“ haben es sogar ohne Krieg fertiggebracht, die Wirtschaft so zu ruinieren, daß marktwirtschaftliche Methoden jeden Sinn verloren haben. Das Bankensystem ist gelähmt. Einige Banken sind bereits geschlossen, andere geben kein Geld mehr aus. Vor kurzem noch zeigten die Bankiers, die Millionen Dollar angehäuft hatten, imposante Selbstsicherheit. Heute sehen wir bei ihnen Fassungslosigkeit, die in Panik übergeht.
Der Geldverkehr ist desorganisiert. Die Zentralbank hat dafür gesorgt, daß sogar der Dollar aufgehört hat, in Rußland ein sicheres Zahlungsmittel zu sein. Denn niemand kennt das gegenwärtige Verhältnis des Rubel zum Dollar. Privatfirmen, aber auch staatliche Organisationen setzen ihre eigenen Kurse fest. Die wirtschaftliche Tätigkeit erstarrt. Die heimischen Betriebe addieren nur noch Verluste. Ausländische Geschäftsleute verlassen das Land. Die Produktion geht zurück, die Steuereinnahmen ohnehin. Sogar der „Schwarzmarkt“ erlebt schwere Zeiten.
Liberale Publizisten versuchen, dieses Desaster mit „konkreten Fehlern konkreter Personen“ zu erklären. Schon zu Sowjetzeiten führten die Verantwortlichen jegliches Scheitern auf „vereinzelte Unfälle“ zurück. Damals wie heute ist die Krise systemimmanent. Das Rätsel ist nicht, warum heute alles den Bach runtergeht, sondern warum es so lange gehalten hat. Das akute Desaster wurzelt in einem strukturellen Mißstand: Das Staatseigentum wurde Anfang der 90er privatisiert, doch eine Bourgeoisie ist nicht entstanden. Die Aufteilung des Staatsvermögens hat eine parasitäre Oligarchie hervorgebracht und keineswegs ein produktives Unternehmertum. So steht an der Spitze des Staates eine „Lumpen-Bourgeoisie“ – ein Haufen miteinander konkurrierender Clans –, die unfähig ist zu führen. Unternehmertum wächst entweder von unten, oder es entsteht überhaupt nicht.
Die russische Regierung hatte, entsprechend der neoliberalen Theorie, alle profitablen Staatsbetriebe privatisiert. Entgegen der Theorie war deren Effektivität allerdings rückläufig. Nachdem sie das profitable Eigentum verteilt hatte, wartete die Regierung, daß endlich auch Steuern hereinkommen würden. Als die Steuern ausblieben, wurde die Steuergesetzgebung reformiert – vergeblich. Es folgte ein siebenjähriger Kampf für Finanzdisziplin und einen Haushalt ohne Defizit, entsprechend den Vorgaben von IWF und Weltbank. Dieser Kampf endete nun im Staatsbankrott. Die Zentralbank verschleuderte zuerst die Valutareserven des Landes, in dem hoffnungslosen Versuch, einer Abwertung vorzubeugen. Danach wurde der Absturz des Rubel zur nationalen Katastrophe.
Der Zusammenbruch der privaten Wirtschaft bringt heute sogar liberale Wirtschaftsexperten dazu, von der Notwendigkeit von Verstaatlichungen zu reden. Doch es ist nötig, nicht bloß bankrotte Betriebe zu verstaatlichen, sondern die wenigen, die dem Staat Geld für Investitionsprogramme zur Verfügung stellen können. Denn der gescheiterte russische Transformationsversuch zeigt: Wo es keine historisch gewachsene nationale Bourgeoisie gibt, kann nur der Staat Herr über die Produktion im großen Maßstab sein.
Zum wirtschaftlichen Bankrott addiert sich der politisch-ideologische. 1993, als Jelzin das rechtmäßig gewählte Parlament auseinandertrieb, behaupteten die Mächtigen, daß die Reformen am Widerstand der Opposition gescheitert seien. Damals wurde die Duma de facto entmachtet, unzählige neoliberale Gesetze wurden beschlossen. Fernsehen und Presse erzogen die Bevölkerung planmäßig um.
Das Ergebnis: Es gibt heute in Rußland erheblich weniger Anhänger eines liberalen Wirtschaftssystems als 1991, als die Kommunisten an der Macht waren. Die jetzige Macht in Rußland hat für die Rehabilitierung der kommunistischen Idee mehr getan als die gesamte Parteipropaganda der vergangenen 30 Jahre.
Der Bankrott des Systems zeigt sich auch darin, daß dessen personelle Reserven erschöpft sind. Nach dem Rücktritt von Sergej Kirijenko wird mit Wiktor Tschernomyrdin genau derjenige aufgeboten, der in den vergangenen Jahren das Land so glänzend in die gegenwärtige Krise führte. Tschernomyrdins Rückkehr zeigt, daß wir es mit einer klassischen „Krise der Eliten“ zu tun haben. Regieren im alten Stil können sie nicht, zu etwas Neuem sind sie nicht in der Lage.
Im Leninschen Sinne sind zwei wesentliche Merkmale einer revolutionären Situation vorhanden – die Unzufriedenheit der Massen und das Chaos der Wirtschaft. Scheinbar schlägt jetzt die Stunde der Opposition. Doch dort sieht es nicht viel besser aus. Die „links- patriotische“ Mehrheit der Duma war in den letzten Jahren passiver Beobachter dessen, was im Land vorging. Die Führer der KP spielten nach den Regeln des Jelzin-Regimes und unterdrückten systematisch die Unzufriedenheit in den eigenen Reihen. Die Unfähigkeit, eine echte politische Alternative zu erarbeiten, kompensierte die KP-Führung durch eine „patriotische“ Rhetorik. So integrierte sich die Opposition genau in dem Moment in das System, in dem dieses zusammenzubrechen begann. Im Westen sorgt man sich, daß es mit einer kommunistischen Regierung zu tiefgreifenden Veränderungen kommen wird. In Rußland fürchtet man, daß in diesem Fall alles beim alten bleibt.
Fazit: Rußland hat die kritische Grenze überschritten. Der Zusammenbruch ist nicht mehr aufzuhalten, bestenfalls kann man ihn noch bremsen. Etwas Neues wird kommen, von dem niemand zu sagen weiß, wie es aussieht. So bleibt nur die Hoffnung, daß aus dieser Krise etwas Besseres hervorgeht als der „Kriegskommunismus“. Boris Kargalitzki
weder von unten, oder es en
reden. Doch es ist nötig, nicht bloß bankrotte Betriebe zu verstaatlichen, sondern
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen