: Die US-Medien jubeln, Internet-Fans sind skeptisch
■ Internet macht's möglich: Nie zuvor wurde ein brisantes Papier wie der Starr-Report Millionen Menschen so schnell zugänglich gemacht. Ein Idealfall der selbständigen Meinungsbildung?
Noch bevor der US-Kongreß über die Veröffentlichung des Berichts von Kenneth Starr im Internet entschied, stellten sich Experten bereits auf ein technisches Chaos ein. Niemand wußte, ob 445 Seiten Vorwürfe, Aussagen und brisante Details die Internet-Nutzer derart zur Raserei bringen würden, daß der Verkehr auf der Datenautobahn zusammenbricht.
„Es wird wohl zu zig Millionen Abfragen und möglicherweise zu einer Überlastung kommen sowie andere Webseiten in Mitleidenschaft ziehen“, prophezeite Robert Flood, Chef der Muttergesellschaf des Internet-Anbieters Netcom.
In der Kongreßbibliothek wurde beraten, auf welchen Internet-Seiten der Regierung der Report noch verteilt werden könnte. „Wir arbeiten rund um die Uhr“, sagte ein Mitarbeiter. Anbieter wie AOL, Compuserve oder die Online-Ausgabe der Washington Post kündigten an, die Zusammenfassung des Berichts so schnell wie möglich auf ihre Seiten zu übernehmen.
Doch neben der technischen Bewältigung des Ereignisses wurde die Frage aufgeworfen, wie sich die Möglichkeiten des Internet auf Politik und Gesellschaft auswirken. Informationen aus erster Hand derart schnell zu bekommen – das ist schließlich eine völlig neue Entwicklung.
Ganze 39.000 Geheimdokumente der Tabakindustrie, die der US-Kongreß unlängst ins Netz stellte, wurden fast eine halbe Million Male abgerufen. Nicht annähernd so viele Bürger hätten sich derartige Papierstapel per Post kommen lassen. Im Fall Clinton seien nun erstmals die Menschen nicht mehr auf traditionelle Medien angewiesen, um sich ihr Urteil in einem so schwerwiegenden Prozeß wie einem Amtsenthebungsverfahren zu bilden, sagte Christopher Feola vom American Press Institute.
„Ist das eine intelligente, gute und befreiende Kraft, oder löst es einen zerstörerischen, Lynch-Mob aus?“ fragte die Washington Post. Vor allem die Geschwindigkeit, mit der das Internet Informationen zugänglich macht, ist neu. Früher hatten Beteiligte eines Verfahrens einen Vorsprung vor den Bürgern: Noch bevor diese die eigentliche Information aus einem Bericht nachlesen und sich eine Meinung bilden konnten, hatten Ankläger und Beschuldigte längst ihre Interpretation und Kommentierung abgegeben. Nun müssen die Clinton- Berater entweder Gegenstrategien entwickeln, ohne den Bericht im Detail zu kennen, oder sie fangen gleichzeitig mit Millionen anderen Menschen mit dem Lesen an.
Allerdings halten Experten das wunderbar basisdemokratische Ideal von Bürgern, die sich nun endlich aus der Ursprungsquelle informieren können, für naiv. Es sei durchs Internet eben nicht nur möglich, sofort ein Dokument zu bekommen, erklärte die Soziologin Sherry Turkle vom technologischen Institut in Massachusetts. Vielmehr könnten die Menschen auch andere Meinungen schneller als früher lesen. Und weil es davon im Netz so unendlich viele gebe, bleibe weniger Zeit, sich mit der wirklichen Information gründlich zu beschäftigen: „Das ist das Problem: Leute schauen, was andere Leute meinen, bevor sie selber nachdenken.“
Indes jubeln US-Medien, die technische Entwicklung mache die Arbeit von Regierung und Parlament transparenter. Schon 1954 habe doch die Neuheit Fernsehen den Bürgern ermöglicht, die Arbeit ihrer Volksvertrer live zu beobachten, hieß es: Von da an seien erstmals parlamentarische Anhörungen live übertragen worden. Nun sei es eben das Internet, das es Millionen Menschen möglich mache, sich selbst ein Bild zu machen.
Jedoch sind auch Internets-Fans im Fall Clinton skeptisch. Der Starr-Report im Internet, sagte Andy Müller-Maguhn vom deutschen Chaos Computer Club, sei kein gutes Beispiel für die Forderung nach Transparenz: „Wir verlangen zwar die maschinenlesbare Regierung, aber nicht unbedingt die maschinenlesbare Unterhose des Präsidenten.“ Georg Löwisch
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