: Unterm Strich
Der wegen seiner angeblich erfundenen Kindheitserinnerungen in die Diskussion geratene Autor Binjamin Wilkomirski setzt sich für eine lückenlose Aufklärung seiner Identität ein. Wie der Frankfurter Suhrkamp Verlag mitteilte, hat der Musiker und Schriftsteller die Schweizer Bergier-Kommission gebeten, seinen Fall zu untersuchen. Die Kommission geht dem Verhältnis der Schweiz zu den Juden in den 40er Jahren nach.
Unter dem Titel „Bruchstücke. Aus einer Kindheit“ hatte der Autor 1995 in dem zu Suhrkamp gehörenden Jüdischen Verlag seine Kindheitserinnerungen an die Konzentrationslager Auschwitz und Majdanek veröffentlicht. Es ist mittlerweile in zwölf Sprachen übersetzt worden. Der Schweizer Autor Daniel Ganzfried war nach eigenen Recherchen jedoch zu dem Schluß gekommen, daß es sich bei dem Erzählten um Erfindungen handeln müsse. Der 1941 als Bruno Doessekker unehelich im schweizerischen Biel geborene und später von einem Züricher Ehepaar adoptierte Autor sei weder jüdischer Abstammung, noch habe er Jahre seiner Kindheit im KZ verbracht.
Nach Angaben des Jüdischen Verlags hält Wilkomirski an seiner Darstellung fest, obgleich er selbst keine schlüssige Erklärung für die Widersprüche zwischen seinen Erinnerungen und den behördlich dokumentierten Fakten habe. Die Jerusalemer Historikerin Lea Balint findet die Lebensgeschichte des Autors glaubwürdig. Sie ist Leiterin der Forschungsstelle „Kinder ohne Identität“.
Dagegen zweifelt auch der Historiker Raul Hillberg, ein Pionier der Holocaust-Forschung, ob die in Wilkomirskis Buch „Bruchstücke“ geschilderten Erlebnisse eines Kindes im Konzentrationslager auf tatsächlichen Erfahrungen beruhen. „Beim Lesen stieß ich auf Passagen mit detailliert geschriebenen Vorfällen, die mir sehr unwahrscheinlich oder völlig unmöglich erschienen“, sagte Hilberg der an diesem Donnerstag erscheinenden Wochenzeitung Die Zeit.
Er selbst habe Wilkomirski einmal bei einem Treffen gefragt, ob das Buch Fiktion sei, berichtete Hilberg. „Seine Antwort war ein entschiedenes Nein – seine Erzählung sei ein Buch der Erinnerung.“ Hilberg stellt angesichts nicht ausgeräumter Zweifel an der Identität Wilkomirskis und der Echtheit seiner Erlebnisse in den Konzentrationslagern von Auschwitz und Majdanek die Frage: „Wie konnte dieses Buch als Autobiographie in mehreren Verlagen durchgehen?“
Nachdem die Widersprüche zwischen juristisch nachweisbarer Wahrheit und Wilkomirskis Erinnerungen deutlich geworden waren, hatte der Jüdische Verlag das Buch mit einem entsprechenden Nachwort ausgeliefert. In dieser Form wurde es in Amerika mit dem National Jewish Book Award ausgezeichnet, teilte der Suhrkamp Verlag weiter mit.
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