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Armes reiches Deutschland

Daß es Armut gibt in Deutschland, verneint die Bundesregierung energisch und beruft sich auf internationale Statistiken. Dabei ist es so einfach, den Mangel zu entdecken. Eindrücke aus einem Wohlstandsland  ■ Von Vera Gaserow

Morgens, so gegen neun, rollt der knorrige Alte mit seiner „Wohnung“ in den Hof. Er parkt den Einkaufswagen mit seiner Habe vor dem Glascontainer und beginnt mit der Arbeit: Pfandflaschen rechts oben ins fahrbare Wohnzimmer, Alkoholreste zum sofortigen Verzehr. Irgendwann hat man aufgegeben, dem armen Schlucker einen guten Tag zu wünschen. Er antwortet eh nicht.

Im Hinterhaus wohnen die Türken, „wir Deutsche“ haben den Blick auf den Park. Manchmal zählt man die Fenster im Hinterhaus, ordnet sie Zimmern zu, dividiert sie durch die Familienangehörigen der türkischen Nachbarn. Was bei der Rechnung herauskommt? So beengt haben unsere Eltern gewohnt, gleich nach dem Krieg. Aber heute? Wäre es eine Kränkung, die türkischen Familien als arm zu bezeichnen? Arm sein sieht anders aus. Eher wie im Nachbarhaus.

Dort lebt ein Mittzwanziger in einer Wohnung so groß wie die der türkischen Familien. Die Miete zahlt das Sozialamt. Sobald der Mann aufwacht, das ist gegen Mittag, bewummert er den Hof mit Technoklängen. Dazu sieht er Kindercomics im Fernsehen. Neulich hat er wieder seine Freundin verprügelt. Sie hat ihm verziehen. Lieber Gott, laß sie bitte so bald keine Kinder bekommen!

Die Webers leben zu fünft auf knapp siebzig Quadratmeter. Die drei Kinder haben sie sich gewünscht, sie sind halt ein bißchen schnell gekommen. Herr Weber arbeitet in gesicherter Stellung. Tarifliche Bezahlung, aber Alleinverdiener. Das Familieneinkommen liegt knapp über dem Sozialhilfesatz. Die Küche der Webers hat etwas anrührend Ärmliches – sie sieht aus wie die „zu Hause“ vor vierzig Jahren. Waren wir damals arm? Die Webers würden das auch heute nicht von sich sagen.

„Schleppscheiße“ nennen die jungen Leute mit den Kötern, den Bierdosen und den sechzigjährigen Gesichtern ihren juckenden Hautausschlag. Hin und wieder holen sie sich gelbe Salbe zum Lindern. Typische Armutskrankheit, sagen die Mediziner in der fahrenden Ambulanz dazu. Auch Tuberkulose ist wieder im Kommen.

Marion sagt: „Ich genieße das einfach.“ Zu Hause sein, nicht jeden Tag an die Arbeit denken müssen, Zeit für das Kind haben und für etliches, was sie schon immer gern machen wollte. Das Leben mit der Sozialhilfe könnte noch eine Weile so weitergehen – sofern sie das Ende selbst bestimmen kann. Marion kommt mit dem wenigen Geld aus, okay, ein bißchen schummelt sie gegenüber den Behörden mit den Alimenten vom Kindsvater. Kürzlich war sie mit ihrem kleinen Sohn auf Mallorca.

Armut ist in den Wahlkampf geraten

Die Kinder kommen, weil sie Hunger haben, sagen die Jugendeinrichtungen des Bezirks und machen nachmittags etwas zu essen. Viele Schüler kriegen nicht einmal Frühstück zu Hause, klagen die Schulen. Die Zahl der Erstkläßler mit Verhaltensstörungen ist dramatisch gestiegen.

„Obdachlosenorganisationen bereiten sich auf den Winter vor“, steht in der Zeitung. Unterkünfte gibt es genug in der Stadt, aber die Obdachlosen nehmen lieber die Schlafsäcke für die Übernachtung im Freien. Bei einem harten Winter werden auch dieses Jahr wieder Menschen erfrieren.

Mosaiksteine aus einem Wohlstandsland in einem persönlichen Radius von gut eintausend Metern. Armes reiches Deutschland, in dem eine Regierung verneint, daß es Armut gibt, Wohlfahrtsorganisationen jedoch das Gegenteil nachweisen und Experten über die Begrifflichkeit streiten. Das Thema Armut ist in den Wahlkampf geraten und eignet sich doch so schlecht für Instrumentalisierung.

Gern würde man einen Zollstock an das Problem anlegen, das sich sehen, fühlen und manchmal auch riechen läßt, aber nur schwer bemessen. Arm ist, wer nicht einmal halb so reich ist wie der Durchschnitt der Gesellschaft, lautet eine gängige Definition, auch der jüngste Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung schreibt es so. Armut ist relativ. Aber auch so relativ, daß man sie automatisch an alle Konsumstandards einer Wohlstandsgesellschaft koppeln darf? Deutschland, so hat die Entwicklungsorganisation der UNO kürzlich ermittelt, gehört weltweit zu den drei am wenigsten von Armut betroffenen Staaten.

Die Wirklichkeit dazwischen ist so banal wie kompliziert: In Deutschland muß es keine Armut geben – trotzdem existiert sie. Nicht jeder, der Sozialhilfe oder ein ähnlich niedriges Einkommen bezieht, ist arm – viele fühlen sich durch diese Stigmatisierung erst arm geredet –, aber immer mehr Menschen sind erbärmlich arm dran. Auch mit Sozialhilfe läßt sich in Würde leben – nur etliche sind nicht mehr in der Lage dazu.

Zum Geldmangel kommen Schicksalsschläge

Armut beginnt meist da, wo – zusätzlich zur Geldknappheit – persönliche Schicksalsschläge oder familiäre Gewalterfahrungen das Leben aus dem Gleis geworfen haben, wo Langszeitarbeitslosigkeit, Krankheit oder Verschuldung keine Zukunft erkennen lassen. Wo gesellschaftliche und kulturelle Zusammenhänge wegbrechen, weil Netzwerke und Selbstwertgefühl an Konsumteilhabe gekoppelt sind. Wer nicht konsumiert, wird ausgegrenzt. Doch gegen diese Armutsmacher hilft Geld allein nur in Grenzen.

Andere Hilfen hat jedoch gerade das reiche Deutschland wenige zu bieten. Es ist arm an Konzepten, wachsender psychosozialer Verelendung zu begegnen, arm an emotionalen Bezügen, die Zusammenhalt stiften, arm an kulturellem Leben, das nicht teuer erkauft werden muß.

Eine Auseinandersetzung mit dieser Art Armut wäre eine Debatte, in der der Staat eine wichtige, aber längst nicht die einzige Rolle spielen dürfte. Es wäre eine Debatte, in der es auch um den alles diktierenden Reichtum einer Mehrheitsgesellschaft gehen müßte: Warum haben Eltern und Lehrer so wenig entgegenzusetzen, wenn Kinder ohne die Adelstitel „Nike“ oder „Diesel“ gnadenlos weggemobbt werden? Warum gibt es Zuschüsse zu Klassenfahrten, die ausgrenzen, weil die Schülermehrheit unbedingt nach Paris fahren muß? Warum lassen wir den Orthopäden auch noch die dritte Röntgenaufnahme unseres linken Knies machen, wo den Kassen angeblich das Geld für den fehlenden Schneidezahn einer Sechzehnjährigen fehlt? Und warum ist selbst das Umverteilen von Überstunden so schwierig, vom Geldabgeben ganz zu schweigen?

Letzteres könnte ich zum Beispiel gut meine 95jährige Nachbarin fragen. Die hält es so wie viele alte Leute. Sie weiß, was Armut bedeutet. Und deshalb knausert sie noch heute um jeden Pfennig. Auf ihrem Sparkonto liegt darum jetzt ein kleines Vermögen. Übrigens: Sie wird es nicht der kirchlichen Suppenküche vermachen und auch nicht dem Kindergarten. Sie weiß überhaupt niemanden, dem sie eine Freude bereiten möchte. Nein, halt! Fast niemanden. Sie wird das Geld einem Pferdealtersheim spenden. Wenigstens die Tiere sollen es besser haben. Armes Deutschland.

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