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Bastler bei der Arbeit

Die Überlebenden und die Überflüssigen: Die Soziologie trägt heute Bindestrich und hat sich in der Dauerkrise eingerichtet. Ein Bericht vom Soziologentag in Freiburg  ■ Von Elke Buhr

Früher, in den 50ern und 60ern, da muß Soziologie richtig schön gewesen sein. Da konnte man noch hinaus ins wirkliche Leben, Fragebögen an Arbeiter verteilen und mit den Ergebnissen anerkannte Leitwissenschaft der Bundesrepublik werden. „Jung und neugierig waren wir, und Soziologie angewandte Aufklärung“, schwärmte der Heidelberger Emeritus Rainer Lepsius vor der versammelten Soziologenschaft – und die nickte seine Darstellung mit geduldigem Lächeln ab. Ja, so war's.

Heute hat sich die Soziologie in einer Dauerkrise eingerichtet. Methodenpluralismus ohne Leittheorie: Das Fach zersplittert. Die Überlebenden tragen Bindestrich, nennen sich Stadt-Soziologen, Medizin-Soziologen, Arbeits-Soziologen und theoretisieren hektisch der Entwicklung ihres Forschungsobjektes „Gesellschaft“ hinterher. So klagte zumindest eine Gesprächsrunde auf dem Freiburger Soziologentag. Und mußte sich von ihrem Gast, dem Sozialhistoriker Hans-Ulrich Wehler, völlig zu Recht sagen lassen, daß die Kritik an der Pluralisierung und die Suche nach einem roten Faden im Fach doch reichlich anachronistisch sei. Sich einrichten in der methodischen und thematischen Vielfalt: Das ist also die Devise. Und wer auf Außenwirkung steht, kann ja bei der Wirtschaft anklopfen, denn auch die Soziologie wird mittlerweile massiv durch Drittmittel finanziert. Oder er macht sich durch simple Thesen und gute Performance möglichst medienkompatibel.

Als Meister in letztgenannter Disziplin erwies sich in Freiburg Roland Hitzler, früher bei Ulrich Beck in München, jetzt in Dortmund. In einem schwungvollen Vortrag, den man wörtlich im Focus hätte abdrucken können, bereicherte er die weitverbreitete Theorie von der fortschreitenden Individualisierung um das Schlagwort der „Bastelbiographie“. Glaubenslos, bindungslos, hemmungslos steht der moderne Mensch in der Gegend herum und wählt aus den unendlichen Angeboten von Lebensstilen und biographischen Möglichkeiten das aus, was ihm paßt. Die meisten Leute, so meinte Hitzler, basteln sich kein besonders originelles Leben zusammen. Was man bei der Kongreßparty umgehend empirisch nachvollziehen konnte: Junge Soziologen tragen alle Schwarz.

Interessanter als das populäre Spiegelgefecht um mehr oder weniger Individualisierung, mehr oder weniger Entscheidungsfreiheit des einzelnen ist die Frage, wie das Zusammenleben überhaupt noch funktioniert. Hitzler spricht von „posttraditionalen Gemeinschaften“ als Lifestyle- Gruppierungen, in die man eintritt, eine Weile mitmacht, wieder austritt und dann die nächste Gruppe sucht. Katalysator der Gemeinschaftsbildung ist der „Event“, sei es die Love Parade, sei es ein Guildo-Horn-Konzert.

Hitzlers Frankfurter Gegenspieler Karl Otto Hondrich sieht Individualisierung und Vergemeinschaftung als einen dialektischen Prozeß: Die Gesellschaft zerfällt in Gruppierungen, aber die halten untereinander wieder zusammen. Wer in die Fremde geht, nimmt seine Herkunftsgemeinschaft mit und identifiziert sich vielleicht erst recht mit ihrer Kultur. Ergebnis ist eine Weltgesellschaft von ineinander verzahnten Gemeinschaften, in der die Netzwerke zwar nicht an Staatengrenzen gebunden sind, das Prinzip „Gemeinschaft“ aber keinesfalls aufgegeben wird. Diese Sichtweise erleichtert es etwa der Migrationsforschung, eine Gesellschaft als Gleichzeitigkeit verschiedener, übereinander geschichteter Gemeinschaften zu sehen, ohne einfach bestimmte Gruppen als mehr oder weniger fortschrittlich oder assimiliert zu bewerten.

Es ist ein Konsens, daß die Gesellschaft, von der die Soziologie redet, nicht mehr an die Grenzen des Nationalstaates gebunden ist. Die Frage nach der „grenzenlosen Gesellschaft“ war das Motto dieses Soziologentages, und wenn es in Freiburg ein übergreifendes Thema gab, dann das der Globalisierung. Verdienstvoll, daß die meisten SoziologInnen versuchten, diesen schwammigen Begriff durch genauere Definition zu einem „harten“, in der Analyse brauchbaren Instrument zu machen, anstatt ihn als Schlagwort und Kampfbegriff einfach zu übernehmen. Ein Blick auf Handelsstatistiken zeigte dabei, daß die Internationalisierung der Wirtschaft lange nicht so schnell voranschreitet wie das Reden darüber. Und wie die amerikanische Stadt-Soziologin Saskia Sassen betonte, ist Globalisierung nichts, was uns einfach geschieht – man muß es machen, und die Regierungen arbeiten hart daran.

Was allerdings mit dem Nationalstaat und seiner Handlungsfähigkeit geschieht, wie Solidarität noch funktionieren soll, wenn nicht zwischen denen, die in einem Staat leben, darüber wurde nur spekuliert. Und auch wenn die amerikanische Bewegung des Kommunitarismus kaum mehr diskutiert wurde: Die Forderung nach mehr Verpflichtung des einzelnen einer Gemeinschaft gegenüber kommt wohl doch einem Bedürfnis entgegen. Der Freiburger Theologe Hans-Ulrich Nübel gründete am Rande des Soziologentages ein deutsches kommunitaristisches Netzwerk, das „Kommunitarismus als dritten Weg zwischen Neoliberalismus und Kommunismus“ entwickeln soll.

Kommunismus? Ein zweites Mal tauchte dieses Wort nicht auf. Als Globalisierungsforschung ist die Soziologie heute Kapitalismusforschung geworden. Alles andere interessiert nicht: Vor allem nicht die DDR oder was von ihr an gesellschaftlichen Strukturen übriggeblieben ist. Noch vor zwei Jahren beim Soziologentag in Dresden wollte man anhand der Untersuchung der Transformationsprozesse, die sich in den neuen Bundesländern abspielen, seine Relevanz beweisen. Heute kommen ehemalige Bürger der DDR höchstens als biographisches Einzelbeispiel vor: in Vorträgen, die gelungene und mißlungene Anpassungsversuche von Individuen beschreiben und Titel tragen wie „Die Überflüssigen“.

Auch die Diskussion über Kontinuität oder Bruch im Fach nach '45, die der Oldenburger Carsten Klingmann in Gang zu bringen versuchte, fand wenig Interesse – anders als beim Historikertag vor zwei Wochen. Bislang hat die Soziologie recht überzeugend das Bild vom völligen Neuanfang nach '45 verbreitet: Die Nationalsozialisten hätten die Soziologie als aufklärerische Wissenschaft nicht tolerieren können und zerschlagen, und nach dem Krieg sei mit den zurückgekehrten Emigranten und einer neuen, unbelasteten Nachkriegsgeneration völlig neu begonnen worden. Ein Mythos, meint Klingmann: Schließlich haben nach 1945 mindestens 120 Soziologen geforscht und gelehrt, die das auch schon unter den Nationalsozialisten getan hatten. Auch inhaltlich und methodisch sieht Klingmann durchaus Kontinuitäten: Schon die Nationalsozialisten hätten empirische sozialwissenschaftliche Forschungen gefördert, zum Beispiel, um möglichst viele Daten über die Bevölkerung in den sogenannten neuen Ostgebieten zu sammeln. Die empirischen Methoden habe man also nicht erst nach '45 von den Amerikanern gelernt; schon während des Krieges setzte die Modernisierung ein.

Rainer Lepsius wollte, genauso wie die Kollegen seiner Generation, Klingmanns Thesen gar nicht erst diskutieren – jung und neugierig sei man gewesen, unbelastet, und habe so die Soziologie neu erfunden. Es gibt eben auch in der Retrospektive recht unterschiedliche Arten, sich seine Biographie zu basteln.

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