Neue Spur nach Eschede

■ Bahnarbeiter entdeckten vor dem Unglück von Eschede Defekt am ICE-Rad, der weit über dem Grenzwert lag. Gehandelt haben sie nicht

Hamburg (AP) – Die Staatsanwaltschaft Lüneburg verfolgt bei ihren Ermittlungen zur ICE-Katastrophe von Eschede eine neue Spur. An dem Radreifen, dessen Bruch den Unfall auslöste, entdeckten Mitarbeiter der Bahn bereits vor Beginn der Unglücksfahrt am 3. Juni in München eine Unregelmäßigkeit. Zwei Bahnarbeiter hatten während zwei Routinekontrollen sogenannte Unrundungen gemessen, die weit über dem zulässigen Wert lagen. Allerdings hatten sie die Dellen nicht als gefährlich eingestuft. Der zuständige Oberstaatsanwalt Jürgen Wigger bestätigte am Samstag einen entsprechenden Bericht des Spiegel.

Wigger betonte auf Anfrage, es sei nicht klar, ob dies die Ursache für den Unfall war, oder ob der verhängnisvolle Radbruch auf Materialermüdung zurückzuführen sei. Klarheit verspreche er sich von drei Gutachten, die aber nicht mehr in diesem Jahr fertig würden.

Laut Spiegel wurde der ICE 884 „Wilhelm Conrad Röntgen“ in einem Münchner Werk kontrolliert. Dabei messen Sensoren das Laufgeräusch, das zwischen Rad und Schiene entsteht. Optische Sensoren überprüfen den Raddurchmesser. In der Nacht vor dem Unglück ergaben die Messungen eine Unrundung von 1,1 Millimeter für ein Rad an der dritten Achse, das Betriebsgrenzmaß liegt bei 0,6 Millimetern. Zwei Nächte zuvor wurden bereits 0,8 Millimeter an dem Rad gemessen. Doch niemand habe Alarm geschlagen, berichtet der Spiegel. Die beiden Mitarbeiter, die die Messungen vorgenommen hatten, seien in das Ermittlungsverfahren einbezogen worden, sagte Wigger.

Die Bahn sah laut Spiegel in den Unrundungen lediglich ein Komfortproblem. Das Nachrichtenmagazin zitiert aber aus einem Fachaufsatz des Dresdner Professors Werner Mombrei und Walter Rodes, bei der Bahn AG zuständig für Fragen der Laufwerkstechnik: „Unrundungen bedingen allgemein während der Fahrt die Entstehung von Schwingungen, die zunächst zu erheblichen Einschränkungen des Fahrkomforts und zu Lärmabstrahlungen des Fahrzeugs führen. Mit der Dauer der Wirkung der Schwingungen steigt die Wahrscheinlichkeit der Ausbildung von betriebsgefährdenden Ermüdungsbrüchen.“

Dem Spiegel zufolge ist die Frage, ob Bahn-Manager juristische Konsequenzen zu fürchten haben, weiter offen. „Sichere Schlüsse sind noch in keine Richtung möglich“, sagte Wigger. In Eschede waren 101 Menschen ums Leben gekommen, 88 waren schwer verletzt. Albert Schmidt, Bahnexperte der Grünen-Bundestagsfraktion, warf der Bahn AG „schwere Versäumnisse bei der technischen Kontrolle der Räder des Unfallzugs“ vor. Die Bahn AG, das Eisenbahnbundesamt und Verkehrsminister Matthias Wissmann (CDU) hätten vor dem Verkehrsausschuß des Bundestags am 17. Juni wesentliche Sachverhalte verschwiegen.