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Ferne Kunst, ganz nah

■ Das Kupferstichkabinett der Kunsthalle zeigt filigrane Schätze des Dürerzeitgenossen Lucas van Leyden

Warum meiden fromme Moslems Besäufnis und Beck's? Der englische Ritter John de Mandeville schrieb die Erklärung im Jahr 1365 in seinem Asien-Reisebericht nieder: Einst, vor langer Zeit, sah Religionsstifter Mohammed seinen besten Freund, den Christenmönch Sergius, erdolcht vor seinen Füßen liegen. Er dachte voller Bestürzung, er selbst habe die Freveltat vollbracht – quasi versehentlich, im Suff. Fürderhin haßte er allen Alkohol. Zu Unrecht, denn ein anderer war der Mörder. Was lernen wir daraus? Daß Antialkoholismus auf einem groben Irrtum beruht. Was lernte das Mittelalter daraus? Daß Moslems potentielle Christenmörder sind und bekriegt werden müssen.

Die Kreuzzugspropaganda von unserem Ritter John wurde von Lucas van Leyden (1489 oder 1494 bis 1533) in der extremen, gliedmaßenverkürzenden Perspektivik eines Hans Baldung Grien Barthaar für Barthaar, Grashalm für Grashalm in Kupfer geritzt.

Auch in den anderen 80 in der Kunsthalle ausgestellten Kupferstichen ergießen sich feine Linien im Mikromillimeterabstand parallel oder in Rautenmustern über Wände, Berge, Bäume und nisten sich in jede kleinste Kleiderfalte ein. Die Grauabstufungen sind noch differenzierter als beim kaum älteren Albrecht Dürer: beeindruckende Dokumente von Geduld, Genauigkeit und Perfektionsbesessenheit einer längst entschwundenen Epoche.

Wie alle Nachrichten aus fernen Zeiten faszinieren die oft nur handtellergroßen Arbeiten sowohl durch Nähe als auch Distanz zur Gegenwart. Das berühmte „Milchmädchen“, eine der ersten Genre-Darstellungen aus dem Alltag der sogenannten einfachen Leute, transportiert einen erotischen Subtext. Der aber erschließt sich heute nicht mehr unmittelbar, sondern muß uns von schlauen Etymologen aus den Tiefen der Kunstgeschichte hervorgebuddelt werden: Melken war nämlich einst ein Synonym für Anbaggern, Anmachen, Verführen. Und in der Tat packt da ein Stall-knecht die gemolkene Kuh an den Hörnern. Komische Erotik. Ein anderes Bild hingegen begreifen wir ohne Deutungsbeistand dank Seehofer-Gesundheitsreform: Es zeigt einen Patienten, der in ein- und demselben Moment grausam eines Zahns, aber auch eines Batzen Geldes beraubt wird. Der Arzt: Retter und Schnorrer.

Das polyvalente Symbol schlechthin ist aber bei van Leyden wieder mal die Frau. In einer Holzschnittserie steht sie ein für alle Laster dieser Welt, in einer Kupferstichserie für alle Tugenden. Als Verkörperung der Klugheit hantiert sie mit Zirkel und Spiegel: Selbsterkenntnis und kühle Rechenkunst als Schlüssel der Weisheit.

Anmutige Rubens-Fettwülste und die Rippenmuskulatur eines Arnold Schwarzenegger gehen bei dieser „Klugen“ fließend ineinander über: Das Frauenbild der Epoche muß komplexer und vor allem stärker gewesen sein, als man gemeinhin annimmt. Die sinnlich-athletische Körperlichkeit wurde zum Teil aus Italien importiert, und zwar vom Michelangelo-Verehrer Jan Gossaert, dem ersten Italienpilger unter den Niederländern.

Mit Abstand am aufregendsten sind aber van Leydens Versuche einer Säkularisierung der Bibel. Die hehren Schlüsselszenen des Christentums werden von allem Himmlischen entzaubert und in den Alltagssumpf zurückgeholt. Durch „Die Anbetung der Könige“ strömt eine Welle allesumfassender Seligkeit – eben gerade nicht. Statt verzückter Passanten sehen wir eine skeptisch tuschelnde Dreiergruppe und griesgrämige Heilige Könige. Das Jesuskind erkundet neugierig eine Dose. Menschen eben. Und vor der Kreuzigungsszene ballen sich Leute, die eifrig diskutieren, sich gegenseitig abstechen, aber eines nicht tun: sich für die Kreuzigung zu interessieren.

Spätestens durch Altdorfer emanzipierte sich um 1510 die Natur zum eigenständigen Bildthema. Auch bei Lucas van Leyden ist sie mehr als Kulisse, eher schon Bühne. Baumreihen schlagen tiefe Schluchten in die Raumtiefe. Außerdem belegen sie: Baumsterben gab es schon am Übergang zwischen Mittelalter und Renaissance.

Wo van Leyden das Kupferstechen erlernt hat, ist nicht ganz klar. Vermutlich bei Waffen- und Goldschmieden, meint Kustodin Anne Röver-Kann, denn der Kupferstich existierte bislang nur zu Gebrauchszwecken, für Andachtsbildchen oder Landkarten.

Die Ausstellung versteht sich auch als Hommage an die Sammlertätigkeit des Kunstverein-Mitbegründers Hieronymus Klugkist. Am 31. Oktober nämlich feiert der Kunstverein seinen 175. Geburtstag – und zwar generationenübergreifend mit einer Bigband- und Technoparty. Kunsthallenchef Herzogenrath schwärmt von seinen 4.500 Mitgliedern. Die seien immer mal wieder bereit, „ihrer“ Kunsthalle das eine oder andere Blatt zu spenden. Außerdem grinsen sie bei Führungen vor Luca Giordanos Bild „Christus vergibt der reuigen Ehebrecherin“ und flüstern „Clinton“ und „Kenneth Starr“. Vergangene Kunst, ganz nah. Barbara Kern

Bis 10.1.1999 in der Kunsthalle Bremen

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