: Gutachten krankt an dünnen Daten
■ Verheerendes Urteil über das Krankenhausspargutachten. Klinikfachmann kritisiert fehlende Grundlage und politisch motivierte Interpretation. Auch Gesundheitsstaatssekretär Orwat (CDU) sammelt Stellungnahme
Das Klinikspargutachten weist gravierende wissenschaftliche Mängel auf. Die Datenlage ist zu dünn, die Daten wurden selektiv verwendet und verfälschend interpretiert. Zu diesem verheerenden Urteil kommt der Hannoveraner Professor Michael Simon in einer Stellungnahme zum Klinikgutachten, deren Kurzfassung der taz vorliegt.
Wörtlich heißt es darin: „Die Gutachter ersetzen mangelndes empirisch gesichertes Wissen durch politisch-normative Setzungen, in denen sie ihre wirtschafts- und sozialpolitischen Grundüberzeugungen zum Ausdruck bringen.“ Im Klartext heißt das: Überall, wo wissenschaftlich gesicherte Daten fehlen, füllt der Gutachter diese Lücke mit seiner gesundheitspolitischen Einschätzung. Der Chef des Kieler Instituts für Gesundheitssystem-Forschung (IGSF), das das Krankenhausgutachten im August vorgelegt hatte, ist CDU-Mitglied und war früher Staatssekretär für Gesundheit in Schleswig-Holstein.
In Auftrag gegeben hat die nun vorliegende Stellungnahme die Berliner Ärztekammer. „Wir wollten eine kritische, wissenschaftliche Analyse des Gutachtens“, sagt Kammerpräsident Ellis Huber. Das IGSF hatte in seinem Gutachten die Schließung von sieben Kliniken sowie die Privatisierung sämtlicher städtischer Krankenhäuser empfohlen.
Im einzelnen kritisiert Simon, der bis vor kurzem am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) zum Thema Krankenhausplanung geforscht hat, drei Punkte der Kieler Analyse: erstens den unkritischen Umgang mit den Daten der Krankenhausstatistik, die wichtige Grundlage der Kieler Expertise sind. Diese beschreiben aber nicht die wirklichen Kosten der Kliniken, sondern die Kostenkalkulationen, auf deren Basis die Krankenhäuser mit den Krankenkassen über Budgets verhandeln. Zweitens die Verwendung von bundesweiten Vergleichsdaten, obwohl nach Ansicht Simons die Berliner Situation lediglich mit Stadtstaaten wie Bremen und Hamburg vergleichbar ist. Drittens kritisiert der Hannoveraner, daß das IGSF Leistungen und Kosten Berliner Krankenhäuser bewertet, ohne über die Leistungen ausreichend informiert zu sein.
Kein Wunder also, daß nach Simons Einschätzung auch die auf dieser dürftigen Datenbasis entwickelten und unzureichend begründeten Maßnahmen nicht nachvollziehbar sind. Dazu gehören neben Schließung und Privatisierung auch das angestrebte Krankenhausbudget sowie die Neugliederung der Versorgungsstufen der Kliniken.
Nicht nur die Ärztekammer überprüft das Klinikgutachten mit kritischem Blick. Gesundheitsstaatssekretär Detlef Orwat (CDU) fordert von den Krankenhäusern Stellungnahmen zu den Gutachtervorschlägen an. Bei den Krankenhäusern rennt Orwat damit offene Türen ein. Das Krankenhaus Moabit zum Beispiel hat dem IGSF inzwischen gerichtlich untersagen lassen, falsche Behauptungen über ihr Haus zu wiederholen. Die Gutachter hatten behauptet, in Moabit seien Investitionen von 250 Millionen Mark vonnöten.
Von einem Gegengutachten will Orwat, der Angst vor dem Verlust seiner Planungshoheit durch die Kieler Expertise hat, aber nichts wissen. Zu befürchten ist dennoch, daß die Mängel des Gutachtens dem Staatssekretär helfen, notwendige Veränderungen in der Berliner Krankenhauslandschaft weiter hinauszuzögern.
Das wolle die Ärztekammer nicht, betont Huber. Sie wolle ein ganz neues Zusammenspiel von pflegerischer und ärztlicher, ambulanter und stationärer Versorgung und damit einen anderen Weg, als ihn die Kieler Gutachter vorschlagen. Die Ärztekammer wird die Langfassung ihrer Stellungnahme in der kommenden Woche öffentlich vorstellen, am 27. Oktober ist eine Veranstaltung zur Zukunft der Krankenhäuser geplant. Sabine am Orde
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen