„Wir wählen keine Außenpolitik“

27.000 türkischstämmige Deutsche sind zur Wahl aufgerufen. Einige müssen sich zurechtfinden, andere ärgern sich über den Aufruf des türkischen Ministerpräsidenten  ■ Von Songül Çetinkaya

Noch nie ist Emine Hatay* mit dieser Frage konfrontiert worden. „Ich dachte, sie wollen Obst oder Gemüse kaufen“, meint die türkischstämmige Frau fassungslos. „Warum wollen Sie wissen, ob ich am Sonntag wählen werde?“

Emine Hatay lebt seit 27 Jahren in Berlin. Bislang mußte sie sich nicht mit Fragen zur Wahl auseinandersetzen. Doch nach ihrer Einbürgerung vor drei Jahren wird sie nun erstmals in Sachen Bundestagswahl um ihre Meinung gebeten. Sonderlich angenehm scheint ihr diese Angelegenheit nicht. Wem sie ihre Stimme geben soll, weiß sie noch nicht. Wem sie ihre Stimme nicht geben soll, weiß sie dafür schon ziemlich genau. „Wie heißt noch die momentan regierende Partei?“ fragt Emine Hatay. „Die werde ich wahrscheinlich nicht wählen. Meine Nichte meint, die seien nicht so gut“.

Ihre Nichte, die ja schließlich studiert, habe ihr auch gesagt, wer gut sei. „Es waren zwei verschiedene Parteien, aber ich konnte mir die vielen Abkürzungen so schlecht merken.“ Deshalb will sich Emine Hatay noch einmal bei ihrer Nichte erkundigen, welches Kürzel für welche Partei steht. Denn wählen gehen wird sie, trotz ihrer möglichen Unkenntnis in Sachen Politik. „Ich bin durch ein amtliches Schreiben zur Wahl aufgefordert worden“, sagt sie. „Da kann ich doch nicht einfach fernbleiben.“ Emine Hatay fürchtet sogar ein Bußgeld, wenn sie nicht zur Wahl geht. Amtliche Schreiben bedeuten für Hatay schon seit jeher Aufforderungen, denen sie Folge leisten muß. Jetzt, mit dem deutschen Paß, fühlt sie sich zwar sicherer, aber vor ihrer Einbürgerung fürchtete sie ständig, ihre Aufenthaltserlaubnis zu gefährden.

Doch die Wahl wird für sie auch in anderer Hinsicht keine leichte Übung. Auch von Erststimme und Zweitstimme hat Emine Hatay noch nie etwas gehört. Aber sie hofft, am Sonntag im Wahlbüro einen netten Helfer zu finden, der ihr das alles erklärt.

Leyla Arslan* ist dagegen schon Profi. Sie wird am Sonntag zum zweiten Mal an einer Bundestagswahl teilnehmen. „Ich habe 1994 schon mit meiner Zweitstimme die SPD unterstützt“, weiß sie stolz zu berichten. „Meine Erststimme hingegen habe ich der CDU gegeben. Da war mir der Direktkandidat am sympathischsten.“

Leyla Arslan weiß auch, daß man für „Wahlenschwänzen“ nicht bestraft wird, doch es sei ihr persönlich wichtig teilzunehmen. „Wir konnten lange genug nicht mitbestimmen. Jetzt, wo wir dürfen, da wäre es verantwortungslos, nicht zur Wahl zu gehen“, sagt sie. Arslan sieht sich durch ihr Wahlrecht privilegiert. Jetzt kann auch sie die Zukunft ihrer Kinder in Deutschland mitbestimmen. Zwar seien diese schon seit ihrer Geburt deutsche Staatsbürger, doch ändere sich hierdurch weder ihr Aussehen noch ihr Ansehen in der deutschen Gesellschaft.

„Meine Kinder können zwar nicht abgeschoben werden, aber diskriminiert werden sie trotzdem. Sei es durch Lehrer, die meinem Sohn trotz guter Noten keine Gymnasialempfehlung aussprechen wollen, oder durch Gemeinheiten der Mitschüler, die ihn immer wieder auf seine türkische Herkunft aufmerksam machen. Sie geben ihm somit keine Chance, sich mit den Deutschen identifizieren zu können“, beklagt Leyla Arslan. So will sie folglich die Parteien unterstützen, die in ihren Augen die beste Integrationspolitik für Ausländer betreiben.

Die meisten der 27.000 türkischstämmigen WählerInnen in Berlin setzen hierin den Schwerpunkt ihrer Interessen. Sie orientieren sich weniger am Aufruf des türkischen Ministerpräsidenten, die CDU wegen deren Außenpolitik und Kurdenpolitik zu boykottieren, als an ihren persönlichen Erfahrungen und Gefühlen, die Mesut Yilmaz ihrer Ansicht nach nur schwer beurteilen kann.

Hüsnü Melek*, der seit 34 Jahren in Berlin lebt, ist besonders erzürnt über die Aktion des türkischen Ministerpräsidenten. „Durch solche Boykottaufrufe schadet uns Yilmaz mehr, als er uns unterstützt“, meint der Rentner. „Wenn ich hier wählen gehe, bedenke ich doch nicht die türkische Außenpolitik. Im Gegenteil. Ich versuche, so deutsch wie möglich zu denken. Schließlich betrifft mich nicht nur die Ausländerpolitik in Deutschland, sondern auch die Wirtschaftspolitik.“

Emine Hatay hat sich indes überlegt, ihren dreizehnjährigen Sohn mit zur Wahl zu nehmen. „Wenn ich nicht klar kommen sollte, kann er mir helfen, oder?“

*Namen geändert