: Die Kunst, den Zufall auszuschalten
Mario Melchiot ist der jüngste Absolvent der Fußballschule von Ajax Amsterdam, der den Sprung ins Profiteam schaffte. Die Bedingungen für Ajax und seine berühmte Ausbildungsstätte werden jedoch schwieriger ■ Aus Amsterdam Ole Schulz
Es war am „Tag der offenen Tür“ vor zehn Jahren. Mario war den Spähern schon aufgefallen, als die D-Jugend von Ajax Amsterdam bei dem kleinen Verein „Volewijkers“ verloren hatte. Die Ajax- Stürmer waren an ihm einfach nicht vorbeigekommen. Jetzt sollte er unter Hunderten von Jungen einer der wenigen sein, die auserwählt wurden, in die Jugendschule aufgenommen zu werden. Mario hatte aber Angst, sich zu blamieren, und versteckte sich erstmal, als sein Name gerufen wurde.
Es half alles nichts: Mario Melchiot wurde entdeckt, blieb bei Ajax und ist momentan der einzige junge Spieler bei den Profis, der direkt aus der Jugendschule den Sprung in die erste Mannschaft geschafft hat. Mit seinen 1,87 m und einem selbstbewußten Auftreten wirkt der 21jährige nicht gerade so, als ob er sich immer noch verstecken müßte. Ende des Jahres läuft der Zweijahresvertrag des technisch versierten Verteidigers aus. „Ich möchte nicht, daß das Denken an Geld mein ganzes Leben bestimmt“, sagt er zwar, doch daß er der neuen Generation von surinamstämmigen Ajax-Sprößlingen wie Patrick Kluivert, Edgar Davids und Clarence Seedorf ins Ausland folgen wird, ist wohl trotzdem nur eine Frage der Zeit.
Nach dem Bosman-Urteil hat der Verein viele Talente an finanzkräftigere Vereine verloren. „Jedes Jahr werben uns ausländische Vereine die besten Jugendspieler ab, häufig sogar ablösefrei“, beschwert sich Hans Westerhof, Direktor der Ajax-Jugendschule, über die rüden Methoden potenter Großklubs. Außerdem sei es immer schwieriger, junge Spieler in der Region Amsterdam zu finden. Daher beschäftige Ajax inzwischen 23 Talente-Scouts, sagt Westerhof. Er war dieses Jahr selber schon in Mexiko, Kuala Lumpur, Hongkong und Südafrika. Neben dem Aderlaß an Talenten blockieren aber auch einige alte Spieler den Nachwuchs – wie der 37jährige Danny Blind, der erst kürzlich seinen Vertrag verlängert hat.
Mario Melchiot, dessen Eltern aus Surinam eingewandert sind, hat mit Davids und Kluivert schon als Kind Fußball gespielt. „Am Wochenende haben wir uns in einer kleinen öffentlichen Sporthalle getroffen und so lange gespielt, bis wir nicht mehr konnten“, erinnert er sich. Noch heute wohnt er mit seiner Mutter in der gleichen Nachbarschaft im schmucklosen Arbeiterviertel „Tuindorp“, in dem er aufgewachsen ist. Von den angeblichen Spannungen zwischen den „Surinamern“ und der Fraktion um die (weißen) De-Boer- Brüder will Melchiot nichts wissen. „Das ist nicht mein Problem, ich komme mit allen gut aus“, wiegelt er ab. Gleichwohl sind seine besten Freunde dunkelhäutige Spieler: Mit Davids und Kluivert telefoniere er regelmäßig und sein akzentfreies Englisch habe er vor allem vom südafrikanischen Youngster Benny McCarthy gelernt.
Sicher ist, daß die Ajax-Schule geholfen hat, junge Spieler mit surinamischen Eltern in den holländischen Fußball zu integrieren. Während der DFB erst seit dem WM-Debakel überlegt, talentierten Kindern von Immigranten eine Chance zu geben, debütierte mit Humphrey Mijnals in Holland schon 1960 der erste Spieler surinamischer Herkunft im Nationalteam; im Aufgebot der Mannschaft bei der WM in Frankreich standen acht „Surinamer“, und vor einem Monat wurde der erst 35jährige Frank Rijkaard zum neuen „Bondscoach“ ernannt.
Wie Rijkaard wurde auch Melchiot nach dem „Tips“-Prinzip ausgebildet. „T steht für Technik, I für Intelligenz, P für Persönlichkeit und S für Speed“, erklärt Melchiot die vier Leitsätze, die ihm sein Trainer Spitz Kohn eingebläut hat. Das Wesen des begeisternd offensiven Ajax-Stils liege in ständiger Bewegung und direktem Kombinationsspiel, sagt Melchiot. „Wie Roboter“ pflügten die Ajax-Spieler über den Rasen, hat daraus ein deutsches Nachrichtenmagazin gemacht. Aber daß die Jungen bei Ajax zu austauschbaren Menschmaschinen herangezüchtet würden, nur weil sie etwas von Raumaufteilung verstehen und allesamt brillant mit dem Ball umgehen können, ist natürlich genausowenig richtig wie die Vorstellung, die Jugendschule käme ohne Drill und Disziplin aus. Der langjährige Ajax-Jugenddirektor Co Adriaanse hält es durchaus für „funktional“, ungehorsame Spieler zu bestrafen. Und für Louis van Gaal, der Ajax als Trainer 1995 zum Champions-League-Gewinn führte, zeigt sich die Qualität einer Mannschaft darin, ob es ihr gelingt, „den Zufall auszuschalten“.
Ein am Reißbrett entworfenes, perfektes Fußballsystem? Ein Spiel, in dem keiner mehr Fehler macht, würde torlos enden und dürfte so unmöglich sein, wie van Gaals eigenes Verhalten berechenbar ist: Als er noch Trainer bei Ajax war, hatte van Gaal nicht nur Verträge für heilig erklärt, sondern auch jeden für „asozial“, der versuche, einen Spieler von Ajax wegzulocken. Nachdem van Gaal Trainer des FC Barcelona wurde, hat er die halbe holländische Nationalmannschaft um sich versammelt und zuletzt versucht, die De-Boer- Brüder aus dem bis 2004 laufenden Kontrakt bei Ajax loszukaufen. Die Ajax-Führung pochte auf Vertragserfüllung, worauf Ronald und Frank de Boer in den Streik traten; Barça verzichtete vorerst, inzwischen spielen die Brüder wieder für Ajax. Erfolglos war ihre Arbeitsverweigerung dennoch nicht: Schon nächstes Jahr dürfen sie nach Barcelona.
Morgen werden die De-Boer- Brüder aber erst einmal in der Champions League gegen den FC Porto auflaufen, Mario Melchiot dagegen wahrscheinlich nicht. Trainer Morten Olsen, dem man in Amsterdam vorwirft, er trainiere zu deutsch, setzt in der Abwehr lieber auf routiniertere Spieler wie Ole Tobiasen und Andrzej Rudy. Sein Festhalten an den Routiniers rechtfertigt Olsen mit dem großen Erfolgsdruck, der auf dem Verein laste. Eine wenig wagemutige Einstellung, mit der sich der Däne in Amsterdam nicht unbedingt Freunde macht.
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