: Dieses taube Gefühl am Abend des Sieges
Am Wahlabend in Bonn erscheinen Rot und Schwarz gleichermaßen erschrocken über das, was vor ihnen liegt ■ Von Constanze von Bullion
Ganz nah am Ziel ist es seltsam still. Wie unter lokaler Betäubung. Ohren, Nase, Tastsinn versagen den Dienst. Nur das Hirn läuft weiter, wie im Leerlauf.
Nein, sie kann nichts spüren, „es fühlt sich gar nicht an“. Nichts kann Doris Schröder-Köpf registrieren, außer den weichlichen Händen der ältlichen Herren, die sie unablässig tätscheln und beglückwünschen. Auch das Auge verweigert bald die Reflexe, es zuckt nicht mehr im Blitzlicht. BDI-Chef Henkel, Oskar Lafontaine, dann Joschka Fischer und immer neue Hände. Es ist spät in der Wahlnacht, in der Bonner Landesvertretung von Niedersachsen laufen die Gratulanten ein, Doris Schröder-Köpf ist First Lady geworden. Sie lächelt, aber es fühlt sich gar nicht an.
Eine Glasglocke liegt über der noch amtierenden Bundeszentrale Bonn am Tag der Entscheidung, als stünden die Menschen unter Drogen. Vielleicht sind es die Bataillone von Kameras, die Wälder von Mikrofonen, denen man hier Sehen und Hören überläßt. Es gibt den heißersehnten Wechsel, einen neuen Kanzler und womöglich eine rot-grüne Koalition, doch richtig zu jubeln, traut sich keiner.
Bis auf den italienische Journalisten, der laut und überschwenglich „ecco“ – „genau“ ruft, als ein lippenleckender CDU-Generalsekretär Hintze um kurz nach 18 Uhr auf die Bühne im Konrad-Adenauer-Haus klettert, das Grinsen abstellt und eine „bittere Niederlage“ vermeldet. Den juchzenden Italiener hätte Viktor Klein eigentlich ausblenden können, schließlich blendet er seit 26 Jahren aus, was nicht ins Protokoll gehört. Klein ist Technikchef im CDU- Troß. Er hat Helmut Kohl bei jedem öffentlichen Auftritt akustisch betreut und eine „Anlage ausgetüftelt, bei der die Störer weitgehend unbemerkt“ bleiben. Es hat viele Störer gegeben.
Eine Art Lebenswerk also, diese Tonmaschine, auf deren Regler Klein seine schweren Hände legt. Wie in Trance wirkt der massige Mann, der gestern noch vergnügt erzählt hat, daß sich „sowieso nichts ändert“.
Im Saal geht inzwischen eine Welt unter
Jetzt schaut er hinunter aus seiner gläsernen Kabine in den Saal, der in Dutzende kleiner Pappkabuffs unterteilt ist. Jeder halbwegs bekannte Politiker, der sich aufs Parkett wagt, wird dort unten in eines der improvisierten Fernsehstudios gezerrt. Hin und her geht das, aber Klein wartet auf ein ganz besonderes Flirren.
18.54 Uhr. „ER kommt.“ Klein spricht den Namen nicht mehr aus, fast als wär's der liebe Gott. Es knallt im Saal, Klein schimpft. „Bumm, das kann ER sich nicht abgewöhnen, immer aufs Mikrofon zu hauen.“ Eine Beleidigung eigentlich, daß der Chef stets die Gerätschaft prüft, statt seinem Techniker zu vertrauen. Als Kohl dann tschüs! gesagt hat und rührselig blinzelt, lehnt Klein sich zurück und läßt alle Regler fahren. „Ein Außenminister Fischer, diese Comicfigur“, sagt er nach einer kleinen Ewigkeit, „da könnte ich platzen.“
Frau Klein kommt trösten. „Man hätte ihn austauschen sollen, den Kohl, in seinem Alter, das wußte doch jeder.“ All die schönen Wochenenden hat sie nun umsonst allein herumgesessen. Demnächst könnte ihr Mann öfter zu Hause sein. „Jetzt fahren wir erst mal in Urlaub“, sagt sie aufmunternd. Herr Klein sieht mäßig begeistert aus. Er habe auch noch ein Archiv zu verwalten.
Unten im Saal geht inzwischen eine Welt unter. Der jungenhafte Krawattenträger, dem der Kinnladen heruntergerutscht ist, war eben noch Volker Rühes Büroleiter im Verteidigungsministerium. Jetzt ist er so gut wie nichts mehr. „Wir waren in Aufbruchstimmung, alle unsere Freunde ziehen um, ich habe mich so auf das kulturelle Leben in Berlin gefreut“, sagt die Frau an seiner Seite, „und jetzt bleiben wir hier.“ Ein Jahr in Washington haben sie mit ihren Kindern verbracht, kamen zurück in die rheinische Provinz, „das war sowieso schon schwer“. Statt Kino und Karriere jetzt ein Leben im Bonner Käfig, in der CDU ist Bescheidenheit ist angesagt. Wer solche Gesichter sieht, dem bleibt die Schadenfreude im Hals stecken.
Nichts wie raus auf die Straße zu den Bonnern, den echten. Die haben längst beschlossen, sich nur noch heimlich vor dem Niedergang zu fürchten. Herr Jelinic zum Beispiel, der freundliche Kellner, der das Volk bei „Höttche“ in der Fußgängerzone mit Paletten voller Köllsch ruhigstellt, ist richtig froh, daß die „Jahrtausendwahl“ die letzte in Bonn war. Sollen sie doch abhauen, sollen sie doch ihre Ministerien dichtmachen und nach Berlin ziehen. „Bei jedem Mist röcken die Demonstranten hier an“, schimpft der Kroate in breitem Rheinländisch, „dat könne dä jetzt ruhig äm Osten machen.“
Der Osten ist ohnehin an allem schuld. „Keinen Pfennig haben die eingezahlt, aber dicke Renten wollen'se haben“, mault in der U-Bahn eine Bad Godesberger Witwe mit gediegenem Gold am Finger. Ihr Gatte war im Verteidigungsministerium tätig, sie hat das Haus gehütet, die Rente läßt sich sehen. „Uns geht's doch gut, wir sind versorgt, Bonn ist versorgt“, ruft sie vergnügt durchs ganze Abteil. Aber den alten Kanzler wird sie „sehr vermissen“.
Ollenhauerstraße. Aussteigen. In der Baracke spricht der neue Kanzler. Nur, daß man kein Wort versteht. Als wären die Ohren verstopft. Nur einen Schritt hinter den Fernsehkameras versickern Gerhard Schröders Worte zwischen den Pappwänden des Wahlstudios. Zu sehen ist ein Stummfilm aus Mundbewegungen und Gesten. Die allerdings sind um so eindringlicher. Hellwach, todernst und ein bißchen erschrocken sieht Schröder aus. Oskar Lafontaine rückt wenig später an, mit tieftraurigem Hundeblick. Neid auf den Gewinner? Wohl eher Streß. Es wird ernst bei der SPD.
Als wären sie selbst etwas ratlos über ihren Sieg, stolpern die Genossen durch ihre Parteizentrale. Aus Dietmar Horn, einem „Kampa“-Streiter der jüngeren Generation, sprudelt die Zukunft nur so heraus: neue Kultur der Selbständigkeit, Flexibilität im Denken, eine „innovative Atmosphäre“ werde der Wechsel bringen. Mittenrein nach Berlin will er ziehen, den Immobilienmarkt hat er schon mal erkundet. Auch wenn Leute wie er jetzt warten müssen, bis sie „angesprochen werden“ – für einen Posten im Ministerium. Das Wort traut er sich kaum auszusprechen.
Steif stehen die Damen und Herren von morgen spät nachts im Foyer der niedersächsischen Landesvertretung herum. Kühler Marmor, höfliches Klatschen und wieder diese Taubheit, die sich im ganzen Körper ausbreitet. „Es fühlt sich gar nicht an“, sagt die First Lady. Die Frau ist wenigstens ehrlich.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen