: Von Anfang an Edeka
Ethnologische Monologe und Gottesbeweise im Musikbesessenheitszeitalter: Andreas Neumeister und Thomas Kapielski verdeutlichen die beiden Seinsmodi „Mjunik“ und „Berlin“ ■ Von Jörg Magenau
Nur noch 15 Monate 2. Jahrtausend und noch so viel zu sagen! Aber was? Der alltägliche Informationsüberfluß produziert Erlebnisarmut. Die Globalisierung verändert rasend die Welt – und hinterläßt in Deutschland das Gefühl der Stagnation. Die deutschen Literaten haben nichts mitzuteilen, heißt es seit Jahren, und das ist ja auch kein Wunder, wenn Kommunikation zur Frage von Technik und Geschwindigkeit geworden ist. Was soll man erzählen, wenn Globalisierung bedeutet, sich der eigenen Winzigkeit im Weltmaßstab bewußt zu werden? Wenn man erkennen muß, daß die wirklichen Geschichten irgendwo da draußen sind und im Fernsehen erzählt werden?
Und doch gibt es eine Reihe meist jüngerer männlicher Autoren, die sich selbstbewußt ins Zentrum der Welt rücken, überzeugte Autisten, die, wie Steffen Kopetzky, Christian Kracht oder zuletzt Benjamin von Stuckrad- Barre mit dem sprechenden Titel „Soloalbum“, den vielbeschworenen Verlust des Subjekts mit der größenwahnsinnigen oder verzweifelt einsamen Machtergreifung des Ich beantworten.
„Selbstredend ist der Monolog die sprechendste Form“, schreibt der mit knapp 40 Jahren etwas ältere und etwas vorsichtigere Münchener Autor Andreas Neumeister in seinem großartigen vierten Roman „Gut laut“. Denn so, monologisierend, läßt sich die kommunikative Umdrehungsgeschwindigkeit noch einmal steigern: mehr „words per minute, words per decade, words per age“. Die Zeit ist knapp. Irgendwo in dieser Sprachschleuder steckt „das berichterstattende Ich als Zentrum einer Zusammenballung zentrifugaler Kräfte“. Dieses Ich, so könnte Neumeister mit einer seiner Lieblingsformeln fortsetzen, darf deshalb „nicht unterbewertet werden“. Es ist dem Loch in der Mitte einer rotierenden Schallplatte zu vergleichen. Oder es ist eine Art DJ, der Erinnerungssplitter und Beobachtungen sampelt, der auf den Zufall und auf Intuition setzt und auch kein Problem damit hat, das Denken könne womöglich genetisch programmiert sein. Im Technozeitalter ist die Maschine dein Freund.
Die Biographie, die in Neumeisters Roman sichtbar wird, schrumpft, wie es sich seit Nick Hornby bewährt hat, auf die Geschichte von Schallplattenerwerbungen und Hörerlebnissen. Sie reicht von der ersten, mit Mikro vor dem Radiogerät selbst aufgenommenen Kassette über Giorgio Morodors Late-Seventies Plastic Sound of Munich bis zu jenem rührseligen Augenblick, als bei einer Fahrt durch die Alpen das Rosengarten-Massiv genau dann am Horizont auftaucht, als von der Kassette Lynn Andersons „Rose- Garden“ ertönt. Wirklichkeit ergibt sich wie im Kino aus der Übereinstimmung mit der Musik, und so entsteht ein biographischer Rhythmus, der irgendwo zwischen dem Rainald Goetzschen Bumm- bumm-bumm-geil-geil-geil-Sound in „Rave“ und Matthias Polityckis ausstattungsreichem 78er-Generations-Portrait im „Weiberroman“ anzusiedeln ist. Man muß, will man eine Biographie haben, Prioritäten setzen, um sich nicht zu verheddern, und so treibt Neumeisters Erdkugel „illuminiert wie ein Musikdampfer durchs All“, schön laut und schön schnell, ein Schallplattenuniversum: „Bin ich froh, daß ich nicht ohne Roxy Music aufwachsen mußte.“
Was für Kettenhörer Neumeister die Tonträger sind für den Tresenleser Thomas Kapielski die pausenlos nachgelegten Biere. Kapielski, Jahrgang 1951, entwirft Buch um Buch eine Art Legende vom heiligen Trinker, eine Biographie in Kneipenerlebnissen und Räuschen, die er in den entsprechenden Lokalitäten Kreuzbergs oder im Prenzlauer Berg zum lichtbildgestützten, lachmuskelstrapazierenden Vortrag zu bringen pflegt. Anstatt das Ich zu vergrößern, kann man auch die Welt drumrum verkleinern. Der Berliner Mauermaßstab zur Erstellung einer Seyfried-Welt ist dafür auch in den 90ern noch handhabbar.
Kapielskis Erzählprinzip ist die Abschweifung. Er kommt vom Hundertsten ins Tausendste. Wo Neumeister, formal hochambitioniert, kurze Textstücke montiert, Sätze scratcht, mit Worten und Bedeutungen spielt, Absätze punktlos beendet und Pausen in Form leerer Seiten und großer Abstände kalkuliert einsetzt, schachteln sich in Kapielskis Suada die Geschichten und die Gedanken assoziativ ineinander. Stilistisch ist das demonstrativ bescheiden und ahmt liebevoll tradierte Deutschaufsatztechnik nach: Mein schönstes Ferienerlebnis. Zugleich aber spickt Kapielski seine Texte mit philosophischen Versatzstücken und religiösen Grundbegriffen. Was „Parosieverzögerung“ oder „Epiphanie“ bedeuten, sollte man schon wissen. So dementieren sich Stil und Jargon fortwährend, und alles, was ist, ist Parodie.
In beiden Büchern gibt es scheinbar keine Differenz zwischen Ich und „Ich“, und so heißen die Romanhelden folgerichtig Neumeister bzw. Kapielski. Während Neumeister im erleuchteten „Mjunik“ versucht, mit dem rasenden Lauf der Zeit mitzuhalten, stagniert bei Kapielski alles schön schummrig vor sich hin. Er ist ein Überlebender West-Berlins, dem Mauerfall und Wende lediglich eine Erweiterung der Kneipenstandorte bedeuten. Seine Geschichten handeln von Begegnungen mit der Berliner Polizei in unnüchternem Zustand; von einer Reise ins stechmückenverseuchte Finnland, wo die Gäste einer Hochzeitsgesellschaft ihre Schnäpse im Kofferraum lagern und die Mücken so aggressiv sind, daß sie den Autor sogar in seinen rindsledernen Geldbeutel stechen; von peinlichen Äbbelwoi-Vorfällen in Frankfurt und anderswo; von bayerischen Wurstbroten und von einer Ausstellung des Kapielskischen Gesamtwerks im Münchener Valentinmuseum nebst Betrachtungen über die Funktionsweise des Kunstbetriebs.
Die Welt erscheint bei Kapielski als Ansammlung von Skurrilitäten: trostlose Blumenrabatten, schreckliche Lämpchen, geschmacklose Tapeten und sorgfältig drapierte Sofakissen. Es ist die Welt von Lichterfelde oder Neukölln-Süd, die er als Ethnologe bereist, aber als einer, der selbst irgendwie dazugehört. Er ist Sammler und bringt folglich zu den Dingen insgesamt ein beachtliches Vertrauen auf. Während Neumeister unentwegt damit beschäftigt ist, Musikstücke auf Kassette neu zu kombinieren und Cover umzugestalten (“Ich kann kaum mehr eine CD so lassen, wie sie ist. Kaum was kann gelassen werden, wie es ist. Fast alles muß verbessert werden“), findet Kapielski sich mit den abnormsten Scheußlichkeiten und merkwürdigsten Ergebnissen menschlichen Gestaltungswillens ab – sieht man einmal vom „Intercity-Night-Quatsch“ der Bahn oder von großkotzigen Cabrios ab.
Klar, auch für Plastikfreund Neumeister ist „das Weltrettungsding“ ad acta gelegt. Doch während er das nächste Jahrtausend herbeisehnt, Beschleunigung sucht und gleichzeitig die Geschichtlichkeit des „Musikbesessenheitszeitalters“ greifen will, sieht Kapielski sein Idealbild im Ruderer, der gemächlich rückwärts in die Zukunft stippt und dabei heideggerisch „auf das Gehabte“ schaut: „Wo und wann man dann gegen seinen persönlichen Eisberg schrammt, wird sich zeigen. Mit Demut, Geduld und Gottesfurcht wurden Schicksal, Sorge, Regenwetter und Tod in ein Akrostichon geballt: G.O.T.T.! – Geh ohne Todesfurcht talwärts!“
Kapielski nennt seine Geschichten, in denen es eigentlich nichts Heiliges gibt, listig „Gottesbeweise“. Und weil er mit den Beweisen IX bis XIII beginnt, lautet der Titel seines neuen Buches „Davor kommt noch“. Doch mehr als um Gott geht es um die Bewegung talwärts, um das grundsätzliche und längst akzeptierte Scheitern als Organisationsprinzip der Biographie. „Scheitern als Chance“ ist das gefeierte Motto von Christoph Schlingensief – Kapielski hat sich schon seit Jahren mit dieser Maxime eingerichtet und so die Gelassenheit eines seltsamen Weisen erreicht, der nur noch über deutsche Autobahnen oder über den Diebstahl eines soeben reparierten Fahrrades verzweifelt. Dann umarmt er – wie einst Nietzsche das Pferd – weinend eine Matratze der Marke Ergolana, die aufrecht vor einem Matratzen-real-Laden in der Sonnenallee steht.
Sein größtes und gar nicht lustiges Scheitern erlebte Kapielski 1988, als er in einem taz-Artikel eine Diskothek mit dem Adjektiv „gaskammervoll“ belegte. Das brachte ihm ein Schreibverbot in der taz und öffentliche Ächtung ein, und noch 1992 mußte er sich in seinem Buch „Aqua botulus“ kräftig daran abarbeiten: „Die ganze miese stinkende deutsche Nazimördergeschichte ham sie auf die zwo harmlosesten Männer gekippt, die ich überhaupt kenne: auf mich und diesen Jenninger!“
Und doch ist Kapielski nicht davon abgewichen, gelegentlich Nazi-Attribute aus dem religiösen Gedenk-, Schuld- und Schauderkontext herauszulösen – heute allerdings sind die moralischen Reflexe der linken Öffentlichkeit weniger ausgeprägt. Wenn er – totalitarismustheorieverdächtig – gesteht, finnische Stechmücken mit einer „unglaublichen und so wohl nur Pol Pot, Stalin und Heinrich Himmler bekannten Satisfaktion“ massengemordet zu haben, kann man das auch schon wieder geschmacklos finden: „Es müssen wohl dreihunderttausend und ein paar Zerquetschte gewesen sein.“ Und doch ist das mehr als die pubertäre Lust an der Provokation, die ihm 1988 vorgeworfen wurde. Es ist ein Schreiben ohne Absicherung durch die deutschen Ordnungskoordinaten Schuld und Sühne, eine satirische Überspitzung, die auch die komplette „abendländische Ethik“ mal eben kurz als „Luxus“ abtun kann. Damit ist nichts gegen Ethik gesagt, sondern nur gegen die Bequemlichkeit, mit der man sich darin einrichtet. „Die hölzernen Wände des Komikers“, sagt Kapielski, „sind mit Pessimismus tapeziert.“
Scheitern als Chance: Das meint auch einen umfassenden, lebenslänglichen, autodidaktischen Dilettantismus. „Wann hört die Jugend jemals auf? Wenn man nicht mehr in die Junge Union eintreten darf“, meint Andreas Neumeister, dem ein „Jetset-Dasein auf, notfalls, niedrigem Niveau“ vorschwebt. Ernsthafte Existenzsorgen gibt es ja nicht in diesem „Mjunik“, und so konnte er auch seine Karriere als Musiker auf die Gründung der Band VEB Eurosound beschränken, deren einzige bleibende Leistung ihr zukunftsweisender Name ist.
Für Kapielski galt von Anfang an das typische West-Berliner Prinzip Edeka: Ende der Karriere. Mit Krakel- und Witzbildern, die vor allem die eigene Unbedarftheit ausstellen, ist er gelegentlich in Berliner Galerien zu sehen, auch wenn er behauptet, seine Künstlerlaufbahn abgebrochen zu haben. Mit dem Musiker Frieder Butzmann spielte er zusammen und brachte es eigenen Darstellungen zufolge fast zu einer CD in 200er Auflage. Heute tritt Kapielski mit dem Grindchor im Kreuzberger Nasenflötenorchester auf, wo schreckliche Potpourris aus „Horst-Wessel-Lied“, „Roter Wedding“, „Popcorn“, „Internationale“ und „Danke für jeden neuen Tag“ erklingen. „Bin ich froh, wenn das 20. Jahrhundert endlich vorbei ist“, lautet die Entsprechung bei Neumeister.
Jede Tätigkeit – und so auch das Schreiben – ist zugleich Persiflage ihrer selbst. Nur so, nasengeflötet, kann sie vor Bedeutung geschützt werden. Und darum geht es: Um die Bedeutungslosigkeit als Lebensprinzip, um die Ideologielosigkeit auf den Trümmern der Ideologie, um Biertrinken als Gottesbeweis und Musikhören als Seinsmodus. „Am Ende der Schicksalsanalysen“, schrieb der Soziologe Heinz Bude ins Vorwort seiner Sammlung „Deutschland spricht“, die auch einen Text Kapielskis enthält, „bleiben die Gottesbeweise. Sie laufen in unserem Fall auf eine Philosophie des Scheiterns hinaus, die auf letzte Begründungen für das Schicksal verzichtet.“ Im Zentrum der Gottesbeweise kann demnach nichts anderes stehen als das Ich, egal, wie bescheiden es sich gibt. Immerhin ist es der Mittelpunkt der Welt.
Thomas Kapielski: „Davor kommt noch. Gottesbeweise IX-XIII“. Merve Verlag, Berlin 1998, 174 Seiten, 24DM
Andreas Neumeister: „Gut laut“. Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 1998, 184 Seiten, 28DM
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