Seife bildet

■ RTL will seine Soap-Ware jetzt sogar zum Schulstoff machen. Da lernen auch die Lehrer

Das Telefon klingelt. „Tom nicht, ich kann nicht!“ Widerstrebend reißt sich Jenny von Tom, der gerade im Begriff ist, sie wild und leidenschaftlich auf dem Teppich hinter der Sofagarnitur zu küssen. Doch in der Leitung ist Sven, Jennys Lover in L.A., dem sie treu ist. Zumindest noch für die nächsten paar Folgen der RTL-Soap „Unter uns“, die demnächst durch deutsche Klassenzimmer flimmern könnten. Denn sie liegen einem Paket bei, mit dem RTL seine Soap-Ware in den Schulunterricht bringen will.

Anstelle des Schicksals von Werther oder Wehner soll sich der Unterricht nach dem Willen des Senders um das Beziehungsgeflecht von Tom, Jenny, Ute, Nick und den anderen „Unter uns“- Darstellern drehen. Seit Beginn des neuen Schuljahrs können sich Lehrer das Paket kostenlos bei den Bildstellen der Bundesländer ausleihen. Neben dem Videoband mit Folgen 716–720 enthält es umfangreiche Grafiken und ein Begleitbuch. Joachim Paschen, der das Angebot der Bildstellen koordiniert, hat das Projekt beim Kölner Sender angeregt. Um „die Medienkompetenz bei Kindern und Jugendlichen zu fördern“, wie er sagt. Wenn Jenny und Tom vor versammelter Klasse an den Verwicklungen ihrer keimenden Liebe zu scheitern drohen, sollen sich die Schüler nicht mehr stumpf fragen: „Wann kriegen sie sich endlich?“, sondern mit geschärftem Blick reflektieren: „Inwiefern ist diese Szene typisch für Seifenopern?“

Vermiesen Lehrer nun das Soap-Vergnügen?

Für jeden mit gesundem Mißtrauen ausgestatteten Jugendlichen riecht das natürlich verdächtig nach Vermiesung des seifigen Fernsehvergnügens. Schließlich wissen sie, daß „diese Nachmittagsserien bei Lehrern nicht gerade beliebt sind“, so Paschen. Die Behandlung der Soaps im Unterricht empfiehlt sich daher nur für aufgeschlossene Pädagogen mit überdurchschnittlicher Leidensfähigkeit. Wem sich bei flachen Dialogen, realitätsfernen Storylines und wackliger Ausstattung derart die Nackenhaare sträuben, daß er selbst vor der Klasse abfällige Bemerkungen nicht zurückhalten kann, sollte die Finger vom Unterrichtsstoff „Soap“ lassen. Die Schüler „machen ganz schnell dicht, wenn sie glauben, daß Lehrer sich erst einschleimen, um am Ende den Bildungshammer hervorzuholen“, sagt die Medienwissenschaftlerin Michaela Krützen, die die Unterrichtsreihe konzipiert hat.

In 15 Minuten sind die Soap-Prinzipien kapiert

Statt den Zeigefinger der Kulturkritik zu heben, setzt sie mit dem Material auf eine sachliche, analytische Herangehensweise. Dabei kommt ihr der Umstand, daß die Seifenserien einfach aufgebaut sind, entgegen. „Um die Grundprinzipien des seriellen Erzählens zu skizzieren, braucht man eine Viertelstunde“, sagt sie, „dann fängt der Spaß an.“

Der Spaß heißt in Krützens Lehrbuch „Sekt oder Selters“: die Grundidee für eine eigene Soap, die die Schüler entwickeln sollen. Als Location hat die Autorin eine Altbauwohnung vorgegeben, in der sich ein Zwillingspärchen zofft. Alles weitere bleibt der Fantasie der Klasse überlassen. Auf diese Art verkürzt sich die trockene Strukturanalyse. „Nebenbei“ bringt sie den Schülern nahe, was es mit Personenkonstellationen, Handlungssträngen und dem „Cliffhanger“ auf sich hat, der die Spannung auf die nächste Folge sicherstellen soll.

Auf diese Weise gewinnt auch der Pädagoge, der gemeinhin fassungslos vor dem Phänomen Seifenoper steht, eine Vorstellung davon, was seine Schüler da nachmittags konsumieren, anstatt ihre Hausaufgaben zu machen. „Auf Klassenfahrten haben die bei ihren Eltern zu Hause angerufen, um sich Folgen von ,Gute Zeiten, schlechte Zeiten‘ aufzeichnen zu lassen“, erzählt Georg Nadas, Politiklehrer an einer Hamburger Gesamtschule, „die meisten kaufen sich sogar die dazugehörige Zeitschrift.“ Als einer der ersten Lehrer hat er das RTL-Medienpaket bestellt. „Mich interessiert auch einfach, was die Schüler an den Serien finden.“

Mit der Serienmaterie – wer mit wem?, seit wann?, warum? – sind die Schüler folglich um einiges besser vertraut als der Lehrkörper. Damit der sich auf diesem jugendlichen Terrain nicht völlig verloren fühlt, bringt Michaela Krützen in den Unterrichtsmaterialien auch Klassiker wie die „Lindenstraße“, „Schwarzwaldklinik“ oder „Dallas“ als Beispiele an. Nur weil die Thematik ungewohnt sei, dürfe man sie in der Schule nicht ignorieren, so Paschen. Was Jenny und Tom hinter dem Sofa anstellen, kommt der Lebensphantasie der Heranwachsenden einfach näher als ein Werther, der sich nach Charlotte verzehrt. „Viele Kinder und Jugendliche holen sich ihre Geschichten aus solchen Serien. Wir müssen sie dort abholen, wo sie sind.“

Nur eines haben die Macher des RTL-Pakets vergessen: Die Seife zur Oper. Die Werbeblöcke, um die herum die Soaps arrangiert sind, tauchen auf den Videos nicht auf. „Schade“, findet auch Paschen, „schließlich handelt es sich dabei um einen essentiellen Teil der Seifenoper.“ Kerstin Meier