: Wie riecht der Osten?
■ Fernsehpfarrer Fliege verließ sein Münchner Studio und tourte samt Talkshow durch Ostdeutschand - natürlich nicht nur aus Nächstenliebe
Alle reinlassen. Lieber jemanden danebensetzen.“ Obwohl die Reihen des Theaters zu Brandenburg/Havel längst gut gefüllt und alle Karten im voraus vergeben waren, sollte niemand um die Segnungen einer persönlichen Audienz bei Pfarrer Jürgen Fliege gebracht werden. Das war der Wille des Herrn Pfarrer selbst, und sein Wille sollte geschehen. Und so schwer war es auch gar nicht. Ein paar Plätze blieben dann doch frei in seinem Paradies, bei der ersten von langer Hand geplanten Aufzeichnung einer Sendung der ARD-Talkreihe „Fliege“ außerhalb des Münchner Studios.
Der Pfarrer/Talkmaster Fliege, laut Oliver Kalkofe die „fleischgewordene Beileidskarte“, brach auf, ganze viereinhalb Jahre nach der ersten Sendung und weit jenseits der 500. Folge. Ging aus dem reichen Süden hinaus in den armen Osten. Fürderhin, so seine Kunde, wolle er näher an die Menschen heran: „Nur wer riecht, was die Leute riechen, die gleiche Luft wie sie atmet, die Welt sieht, in der sie leben und sie hört, nur der kann ein Gefühl für sie bekommen.“
So kam Fliege schon einen Abend vor der Aufzeichnung. Da lief im Theater noch das Stück „Die letzte Ölung“. Und Fliege ging ins Gasthaus in der armen Stadt Brandenburg an der Havel, stand am nächsten Morgen um sieben Uhr auf, spazierte durch die einsamen Straßen, roch, sah, hörte, atmete. Dann ging er ins Theater, wo die sieben Sessel für seine Show inmitten der Kulisse für „Die lustige Witwe“ aufgestellt waren.
Das alles war nicht ganz ohne Hintersinn arrangiert. Flieges typische Zuschauer sind in einem Alter, in dem der Fernsehpfarrer auch als Ölungsfachmann gebraucht werden könnte: mindestens 50 Jahre alt, meist aber älter als 60, älter als 70 und mehrheitlich weiblich. Die Witwenwahrscheinlichkeit ist ebenfalls groß. Inmitten solcher Damen steht er gerne, gibt Autogramme, hört sich die Gebrechen an, klingt fröhlich, besorgt, nachdenklich – je nach Bedarf. Dann macht er einen ganz alten Witz und alle lachen.
Später, bei der Aufzeichnung, stellte sich dann heraus, daß das Sehen, Riechen, Schmecken und Atmen so richtig viel nicht geholfen hat. Fliege tröstet gern durch Sprechen, über Gesundheit und Beziehung normalerweise. Zum Ost-Feldzug des Trostes und der Barmherzigkeit wurden aber ausgesprochene Ostthemen gewählt: „Karrieren nach dem Mauerfall“ beziehungsweise „In der DDR war ich ein Star“ – mit Gästen wie der Gattin des sächsischen Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf, den Eiskunstlauf-Vizeweltmeistern Ingo Steuer/Mandy Wötzel, dem Sänger Frank Schöbel und „heute“-Sprecherin Katrin Müller. Es geht maßgeblich um die Biographien der einzelnen, und die waren in Brandenburg nicht zu riechen.
Zum emotionalen Motiv der Ostmission tritt allerdings auch noch ein weitaus handfesteres Argument: Der Osten ist bislang eher Meiser- als Fliege-Land. Von den mindestens anderthalb Millionen Zuschauern, die regelmäßig um 16 Uhr die öffentlich-rechtliche Beichtstunde besuchen, stammt der Löwenanteil aus den alten Bundesländern. Das soll sich (wenigstens ein bißchen) ändern.
Mit seiner Talkshow läßt er „einsame Menschen am Leben anderer teilnehmen“. Sagt er selbst. Dem Psychologen Colin Goldner deucht das zynisch. Schließlich ist die Talkshow gleichzeitig Nutznießer der Einsamkeit – und darüber hinaus nur ein Surrogat für die Wiederaufnahme in eine Gemeinschaft. Die Stadt Brandenburg kennt einen guten Beleg zu dieser These: Dort wurde im Sommer, vier Jahre nach Eintritt des Todes, die vollkommen mumifizierte Leiche eines Mannes gefunden. Im Sessel. Vor dem Fernseher. Der hätte noch vor sich hingeflimmert, wenn nicht der Strom inzwischen abgeschaltet worden wäre. Peter Kermeier
„Fliege“ (life on tape aus'm Osten), heute u. morgen, 16 Uhr, ARD
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen