: Ringparabel für Autonome
■ Palästinensische Diskussionskultur mit einem deutschen Klassiker: Mit Lessings "Nathan der Weise" gastiert das Theater Heilbronn derzeit als erstes ausländisches Ensemble im Arafat-Staat
Jerusalem (taz) – Symbolische Gesten: Als der Bus mit den Heilbronner Schauspielerinnen und Schauspielern letzten Mittwoch den Erez-Checkpoint zur Einreise nach Gaza passierte, war kurz zuvor US-Außenministerin Madeleine Albright hier durchgekommen. Im Gästehaus einige hundert Meter weiter verhandelte sie mit PLO-Chef Jassir Arafat und Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, während das Heilbronner Ensemble weiterfuhr, um als erstes ausländisches Theater in einem palästinensischen Autonomiegebiet zu spielen: Lessings „Nathan der Weise“.
Was bei uns als verstaubter Klassiker gilt, ist in Israel und Palästina von Brisanz. Daß die Heilbronner mit der aufklärerischen Parabel eines friedlichen Nebeneinander von Juden, Muslimen und Christen ausgerechnet in den Nahost-Krisenherd reisten und die Reise vom Bonner Auswärtigen Amt mit nahezu 90.000 Mark unterstützt wurde, hatte schon im Vorfeld auf beiden Seiten für Aufregung gesorgt: Für Israel kommt eine derartige Gastspielreise einer Einmischung in innere Angelegenheiten gleich, und für Araber ist es schwer erträglich, daß in Lessings Stück ausgerechnet ein Jude als Friedensstifter auftritt.
Wie direkt das arabische Publikum die Aufführung auf seine eigene Realität bezog, wurde dann am Donnerstag im Al-Shawa Culture Center in Gaza City deutlich. Mehr als 200 Zuschauer kamen in den Betonbau direkt an der Omar Almoktar Street, die vom Regierungsviertel in die Altstadt führt. Viele von ihnen haben irgendwann einmal in Deutschland studiert, der 20jährige Motaz Alhalimis allerdings spricht aus einem anderen Grund Deutsch. Seine Frau heißt Stefanie, ist 18 Jahre, kommt aus Berlin und sitzt traditionell arabisch gekleidet neben dem neuen Ehemann. Dieser amüsiert sich sichtlich, daß Heilbronns Intendant Klaus Wagner, Regisseur und Hauptdarsteller des „Nathan“, zum ersten Treffen des Juden mit dem Jerusalemer Sultan Saladin, einer Lichtgestalt arabischer Geschichte, in demütiger Haltung auf der Bühne erscheint.
„Der Jude hat ja Angst“, freut er sich und erklärt in der Pause, eigentlich stimme an dieser Geschichte so gut wie nichts. Ein arabischer Fürst würde sich nie Rat bei einem Juden holen, und das mit der Ringparabel stehe so nicht im Koran. Daß der muslimische, jüdische und christliche Glaube gleichberechtigte Kopien einer verlorenen Ursprungsreligion sein könnten, ist für ihn nicht mal als Allegorie vorstellbar.
Die „Friends Boy School“ in Ramallah, etwa zwanzig Kilometer von Jerusalem entfernt, war die zweite Station der Heilbronner Nathan-Versöhnungstour. Kurz vor Beginn der Vorstellung traf allerdings ein von palästinensischen Schriftstellern und Kulturfunktionären unterschriebener Brief ein. Sie protestierten gegen die Gastspiele und fanden es inakzeptabel, daß Sultan Saladin wie ein „Clown“ dargestellt werde. Walid Abdelsallam, vom palästinensischen Kulturministerium mit der Betreuung der Theaterangelegenheiten im Westjordanland beauftragt, zeigte Flagge.
Er hatte maßgeblich dafür gesorgt, daß die Gastspiele zustande kamen, und bekräftigte in der Diskussion nach der Aufführung vor versammelten Publikum die Richtigkeit der Entscheidung für den deutschen „Nathan“. Zwar konnte auch er sich den Hinweis nicht verkneifen, daß er einen derart toleranten Juden wie Nathan natürlich genau deshalb hier zeigen wolle, um den Israelis einen Spiegel vorzuhalten. Er verwies aber auch darauf, daß Veranstaltungen wie diese die Kultur der öffentlichen Diskussion in Palästina vorantreiben könnten.
Palästinas erster Nathan, Klaus Wagner, wirkte zu diesem Zeitpunkt schon etwas erschöpft. In Heilbronn sorgt er mit Stücken wie Danon/Levys „Scheindele“ über ultraorthodoxe Juden im heutigen Israel für eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit den Verwerfungen im Nahen Osten. Das erste Resümee vor Ort und kurz vor der Weiterreise zum letzten Gastspiel in Nablus: „Es ist für uns eine ungeheure Erfahrung, daß ein deutscher Klassiker in einer politisch brisanten Situation wie hier eine ganz aktuelle Bedeutung bekommt.“ Jürgen Berger
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