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Die Liebe zum Leben einer Unberührbaren

Mit dem Rucksack unterwegs und nicht ganz von dieser Welt. „Liebe das Leben“ von Erick Zonca erzählt die Geschichte eines Engels, der nach Lille kam, und die von Marie, die einen Engel braucht. Selbst Schurken werden nicht als Schurken gezeigt  ■ Von Niklaus Hablützel

Es ist grau und kalt im nordfranzösischen Lille, und niemand will die Postkarten mit den aufgeklebten Fotos aus der Illustrierten haben, die Isa auf der Straße verkauft. Erick Zoncas Film, der erste lange nach zwei hochgelobten kurzen des 1956 in Orléans geborenen Regisseurs, beginnt mit Bildern, die mitten hinein zu führen scheinen in das triste Milieu der kleinen Leute.

Aber es ist nicht das, was er schildern will, er braucht den sozialen Realismus nur als dunklen Malgrund für seine Figuren, für die beiden Frauen Isa und Marie, die darauf leuchten wie Ikonen in einer Kirche. „Ein Leben, von Engeln geträumt“ lautet der Titel im Original, den der deutsche Verleiher etwas mutlos, wenn auch nicht ganz falsch mit „Liebe das Leben“ übersetzt hat. Denn wahr ist schon, daß Isa das Leben liebt, die junge Frau, die Élodie Bouchez mit dem Gesicht eines Jungen spielt. Auch das, nur scheint sie nicht ganz von dieser Welt. Sie ist mit dem Rucksack unterwegs, und so geht sie durch diesen Film, als sei sie nur zufällig hierhin geraten. Mit großen Augen nimmt sie eine Weile teil an diesem Leben, solange bis es keinen Sinn mehr hat, aufgebraucht ist. Dann packt sie ihre Sachen und geht. Nichts bleibt von ihr, außer der Erinnerung an ein Wunder.

Das Vorbild für seine Isa hat Erick Zonca in einer Kneipe gefunden, tatsächlich ein Mädchen mit Rucksack unterwegs, das sich mit einem Job hier und einem anderen dort durchs Leben schlägt.

Seine Erzählungen haben ihn als Drehbuchautor wie auch als Regisseur zu einem Film inspiriert, der ein Meisterwerk ist, weil er den Mut hat, einen Engel zu zeigen. Tatsächlich einen Engel, nichts weniger als das. Es gelingt ihm, weil er diesem Mädchen Isa einen Konterpart zur Seite stellt, der in der Tat einen Engel braucht: Marie, auch sie eine Gelegenheitsarbeiterin, aber voller Leidenschaft verstrickt in ihre Art von Leben.

Am Ende des Films wird sie sich aus dem Fenster stürzen und mit dem selben Mut, mit dem Regisseur Zonca einen Engel zeigt, läßt er Marie auch ihren Masochismus genießen als das, was er schließlich ist, nämlich als sexuelle Lust. Neunzig Minuten schauen wir zu, wie diese quälsüchtige Frau versucht, mit Isa zu leben. Sie kann es nicht. Isa liebt sie mit der seltsam unbeteiligten Liebe, mit der sie alles liebt, sie schenkt ihr sogar eines jener Heiligenbildchen, das die Mutter jenes Mannes gemalt hat, der beinahe so etwas wie ein Liebhaber von Isa war. Aber dann wurde nichts daraus, weil Isa wie immer wegging, ohne viel zu fragen.

Ungläubig hört Marie zu, als die neue Freundin bei ihr morgens im Bett liegt und ihr das erzählt – das einzige Mal, daß sie überhaupt aus ihrem Leben erzählt. Marie versteht es nicht, sie hätte mehr getan, sie will sich sogar vergewaltigen lassen, und so findet sie denn auch beim Klauen im Kaufhaus den reichen Schnösel, dem sie sich unterwerfen kann.

Selbstverständlich läßt er sie am Ende sitzen. Doch selbst ihn mag Zonca nicht als Schurken zeigen, er läßt ihn von Grégoire Colin als ein wenig linkischen, im Grunde unglücklichen Sohn viel zu reicher Eltern in der Provinz spielen, so als habe auch ihn ein Engel geküßt, der nichts Böses will und auch nichts Böses sehen kann.

Ein Paradies ist nun aber Lille gewiß nicht, die Kleinstadt mit der Einkaufsmeile, der Kleiderfabrik, den Provinzbossen, aber auch den Rockern und dem Nachtklub, die Zonca nie aus den Augen läßt. Hier erscheint der Engel, nicht im Himmel, und Zonca entfaltet seine Erscheinung auf Erden als Kammerspiel seiner hinreißenden Darstellerinnen. Maries Kampf gegen Isa ist auch ein Kampf der zuvor weitgehend unbekannten Natacha Régnier gegen Élodie Bouchez, den Star des neueren französischen Kinos. Sie gewänne ihn, hätte sie das letzte Wort, so aber geht es unentschieden aus.

Unnahbar bubenhaft, dennoch lebenstüchtig die eine, eine verletzliche, übellaunige Göre mit schiefem, bitteren Mund die andere: So scheitern sie aneinander, müssen scheitern, weil ein Leben in Lille so nicht gelingen kann.

Man kann es nur lieben und ihren Überschuß an Güte, den Marie nicht haben will, muß Isa in einer Nebenhandlung loswerden. Die gemeinsame Wohnung der beiden ist nämlich nur frei, weil die Besitzer bei einem tragischen Verkehrsunfall ums Leben kamen. Allein die kleine Tochter Sandrine hat überlebt. Sie liegt im Koma, doch Isa liest ihr trotzdem aus ihrem Tagebuch vor, das sie in der Wohnung fand.

Das Wunder geschieht. Sandrine erwacht, sie lebt, Marie dagegen bringt sich um, einsam, weil auch von Isa verlassen: Das Gleichgewicht von Tod und Leben ist gewiß gewaltsam konstruiert, aber es bewahrt den Regisseur bis zum Ende vor dem Abgleiten in die Rührseligkeit der Milieuschilderung. Isa ist unberührbar. Sie ist ein Engel, das ist nun nicht mehr zu übersehen.

Zuletzt sitzt sie in einer Fabrik und stöpselt Stecker für Computerkabel zusammen. Eine schier endlose Reihe von Arbeiterinnengesichtern zieht über die Leinwand. Gewöhnliche Gesichter, eines davon könnte der nächsten Marie gehören, einer Frau, die einen Engel braucht.

„Liebe das Leben“, Regie und Drehbuch: Erick Zonca, mit Élodie Bouchez, Natacha Régnier, Grégoire Colin, Frankreich 1998, Farbe, 90 Minuten

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