piwik no script img

Spitzelbude wird zum Dienstleister

■ Die Rolle der „Einwohnerkomitees“ in den chinesischen Großstädten hat sich mit den gesellschaftlichen Umbrüchen in China grundlegend gewandelt

Peking (taz) – Die chinesischen Einwohnerkomitees sind per Definition keine Regierungseinrichtungen. Mit anderen Worten: Sie bekommen kein Geld vom Staat und müssen selbst für die Bezahlung und Ausbildung ihrer Mitarbeiter sorgen. Daher kommt auch das schlechte Image von der „alten Oma“ im Einwohnerkomitee, die nichts Besseres zu tun hat, als schlechte Nachrichten über ihre Nachbarn zu verbreiten. Besonders für junge Leute in den großen Städten galt lange die Devise: Meidet die Einwohnerkomitees, sonst kennt jeder dein Privatleben!

Der ehemalige Harvard-Sinologe Allen Choate, heute Direktor für Hilfsprogramme der amerikanischen „Asia Foundation“ in China, untersuchte in den vergangenen Monaten die Modernisierung der Einwohnerkomitees. Seine Untersuchungen in vierzehn chinesischen Städten, die er kürzlich vor Journalisten in Peking zusammenfaßte, sprechen vom rasanten Wandel des städtischen Alltags in China, in dem sich die demokratisch gewählten Einwohnerkomitees unversehens als letzter Halt für eine zunehmend entwurzelte Bevölkerung entpuppen.

Choate stellte fest, daß sich die alte Funktion der Einwohnerkomitees als nachbarschaftliche Spitzelbude der Partei im neuen Großstadtleben nicht mehr aufrechterhalten läßt. Zu viele ziehen um, zu groß ist die Zahl der fremden Besucher und Zuwanderer aus anderen Regionen. Mit der neuen Mobilität und Flexibilität der Einwohner haben sich aber auch die sozialen Bedürfnisse geändert. Viele Menschen sind heute arbeitslos und suchen einen Job. Als ersten Ort auf der Arbeitssuche aber werden sie womöglich das Einwohnerkomitee ansteuern: Dort arbeiten zumeist fünf bis zehn engagierte Frauen für eine Bevölkerung von zwei- bis dreitausend, die sich immer mehr auch als Sozialarbeiterinnen verstehen.

Zur Professionalisierung der schlechtbezahlten Tätigkeit trägt bei, daß viele Einwohnerkomitees inzwischen junge, arbeitslose StudentInnen anwerben, die neue Dienstleistungsideen mitbringen. So kümmern sich die Komitees jetzt um die Unterrichtung der Bürger über neue Gesetze. Seit die chinesische Gerichtsbarkeit dem einzelnen zunehmend Klagemöglichkeiten einräumt, ist dies zu einer wichtigen Aufgabe geworden.

Fortschrittliche Einwohnerkomitees bieten auch Aids-Beratung an. Andere kümmern sich um die Stadtbegrünung. Und schließlich bekommt auch die alte Aufgabe der Einwohnerkomitees, die Wahrung der öffentlichen Sicherheit, eine neue Bedeutung: Statt im Namen der Partei Abhöraktionen zu starten, müssen die Einwohnerkomitees neue Schlösser in beraubte Wohnungen einbauen. In Chinas großen Städten steigt die Kriminalität. Da ist manchem ein Hauswärter des Einwohnerkomitees Gold wert – zumal wenn man ihn zuvor noch selbst wählen durfte. Georg Blume

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen