Prêt à porter: Dekonstruktivistische Schnitzeljagd
■ Ein Mann ist ein Mann, und eine Frau ist ein Konstrukt: Martin Margiela zeigt Männermode
Wo bitte geht's zum Defilee? Eine Frau im weißen Arztkittel lächelt mich an: „Dieser Raum ist nur für Fotografen.“ Eine Minute später komme ich zurück. Der Gang war ein Ausgang. Ich sehe der Frau zu, die bei jeder Frage auf den falschen Gang zeigt. Das macht die mit Absicht! Mißtrauisch sehe ich mich um. Schnitzeljagd? Stehen die Models unauffällig in der Menge und wollen aufgespürt werden? Ah, auf dem Holzfußboden ist eine Art Laufsteg markiert. Man kann also einfach in einem der Zimmer stehenbleiben. Ich stelle mich an die Wand und betrachte erwartungsfroh die Neuankömmlinge. Heute wird Martin Margiela zum ersten Mal auch einige Kleider für Männer vorstellen. Von der Decke baumelt eine einsame 40-Watt-Birne. Verdammte Weltwirtschaftskrise! Ein Sandwichmann schiebt sich durch die Menge. Was...? Es geht los, es geht los!
Auf jede Tafel ist ein Kleidungsstück gedruckt. Vorn ein Pullover, hinten ein... Ja was denn, Leute, merkt ihr nicht, daß ihr auf dem Laufsteg steht? Man kann ja gar nichts sehen! Drei zwitschernde Japaner drängeln sich vorbei, dann noch einer. Moment! Der hat da hinten Klebestreifen auf der Jacke. Das war ein Model. Doch eine Schnitzeljagd. Jetzt aber aufgepaßt. Margiela ist ein Meister des Dekonstruktivismus. Vor einem Jahr hat er ein Oberteil genäht, das die Form einer Stockmannpuppe hat. Das sind diese Schneiderpuppen, die praktisch nur aus einem Torso bestehen. Auf dieses Teil, das komplett mit Taillenlinie, Mittellinie und der Einheitsgröße 40 markiert war, hat er dann Fragmente eines Kleidungsstücks gebunden: Also etwa die Vorderseite eines Kleides, das ebenfalls in eine vorgefertigte Form gepreßt war samt der Ausbuchtungen von Hüften und Busen. Er hat die Frau als Konstrukt entlarvt, indem er alles, was den weiblichen Körper technisch in die erstrebenswerte Form bringt – schmale Taille, runde Hüften, hoher Busen –, nach außen gekehrt: Abnäher, Schulterpolster, Verstärkungen etc. Es war wundervoll gemacht und – sehr deutlich. Also kommt nur, Jungs! Ich erkenn' euch schon.
Fünf Minuten später: tiefste Depression. Da ist einer in Khakihosen und T-Shirt, ein anderer trägt einen schwarzen Anzug, halt, hier, dem ersten klebt eine 10 auf dem Rücken aus diesen durchsichtigen Klebestreifen, die Margiela immer verwendet. Dann ein Mann in Jeans und einem zerknitterten Jackett – Knitterfalten hat Margiela auch gemacht! Aber nein, der Mann hat eine Kamera auf dem Rücken hängen. Verzweifelt sehe ich auf die Tafeln, keines der abgebildeten Kleidungsstücke ist auf einem Männerkörper zu sehen. Deconstructing Harry? Keine Spur. Plötzlich wird alles klar – die Frauen ziehen ein. Einige tragen Jeans, darüber die Vorderseite eines Kleides, das bedruckt ist mit einem Rock und einem Pullover. Wie ist es nur befestigt? Kein Band, kein Klebestreifen zu sehen. Margiela hat es an der Schulter aufgeklebt. Genau – wie auf eine Schneiderpuppe.
Ein Mann ist ein Mann und eine Frau ein Konstrukt? Unmöglich. Margiela gilt als Mann von großer Intelligenz. Margiela ist der große Unbekannte der Modeszene. Er läßt sich nie fotografieren, und mit Journalisten verkehrt er nur per Fax. Seine Antworten beginnen immer mit „Wir“. Das ist es! Deshalb gingen seine Männer-Models unauffällig in der Menge unter wie beliebige Massenware. Sie haben noch nicht mal das Stadium des Konstrukts erreicht. Anja Seeliger
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