■ Schlagloch: Schrödiger als Schröder Von Klaus Kreimeier
„Ausgerechnet in dem
Moment, in dem ein echter, verblüffender Sieg zu
verzeichnen ist, reckt der
alte Fundamentalismus
sein Haupt.“
Mariam Lau in der taz
vom 17./18. Oktober 1998
Wie schrecklich, ausgerechnet in diesem Moment... Kann der alte Fundamentalismus nicht abwarten? Schon reckt er wieder – und wer weiß, was er mit seinem Haupt sonst noch so anstellen wird; jedenfalls, in diesem Moment eines echten und verblüffenden Sieges stört er einfach. Bleibt nur zu hoffen, daß „sich die pragmatisch und mit großer rhetorischer Zurückhaltung agierende rot-grüne Regierung von den Fundamentalisten aller Seiten auch in Zukunft nicht entmutigen läßt“.
Ja, das ist zu hoffen, aber auch das weiß niemand so genau. Hat nicht gerade vorgestern der erst designierte und alsbald resignierte Wirtschaftsminister Stollmann seinen Hut genommen, noch bevor er ihn richtig aufgesetzt hat? Und ist das nicht nur damit zu erklären, daß sich der eifernde Fundamentalist Lafontaine, designierter Finanzminister und stets auf fundamentalistischen Machtzuwachs versessen, gegen den pragmatisch und mit großer Zurückhaltung agierenden Noch-nicht-aber-beinahe-doch-schon-Kanzler Schröder durchgesetzt hat? Ungemütliche Zeiten stehen bevor, wenn der Fundamentalismus nicht nur im „Katastrophenbunker“ hockt, sondern sich schon im zukünftigen Kabinett gleich nebenan breitgemacht hat.
Vielleicht aber wäre erst einmal zu klären, was hier unter Fundamentalismus zu verstehen ist. Einen augenzwinkernden Hinweis für linguistisch Geschulte liefert Mariam Lau mit ihrer Prosa über die Neugestaltung des Potsdamer Platzes – „eines ganz offensichtlich gelungenen Amalgams aus moderner Kapitalrepräsentanz, städtischer Unterhaltungskultur und praktischer Einkaufsmeile“.
Ich bin in der Provinz zu Hause (aha! „galliges Provinzlergegreine“!) und muß zu meiner Schande gestehen, daß ich das Amalgam noch nicht in Augenschein genommen habe. Unbesehen mache ich mir daher Laus Enthusiasmus zu eigen und bescheinige ihr noch zusätzlich, daß ihr mit diesem Text ein ganz offensichtlich besonders gut gelungenes Stück Werbelyrik aus der stets frohgemuten Feder gerutscht ist. Vermutlich ist die moderne Kapitalrepräsentanz am Potsdamer Platz mittlerweile so überwältigend repräsentiert, daß den Feuilletonisten im engeren und weiteren Umkreis – die Kochstraße jedenfalls eingeschlossen – gar keine andere stilistische Alternative bleibt, als glanzkaschierte Commercials im Leitartikelformat zu schreiben.
Ich erkläre mir die Sache mit dem Fundamentalismus, wie ihn mir Mariam Lau erklärt, so: Fundamentalist ist, wer noch immer die Freigabe von Heroin (Nebensache) oder mehr Frauen in verantwortlichen Regierungsposten (Quotenfimmel) oder einen Zeitplan für den Ausstieg aus der Atomenergie (Erbsenzählerei) oder die Abschaffung des Lauschangriffs (halb so schlimm) oder die Wiedereinsetzung des Asylrechts (haben wir doch im Grundgesetz) oder die Entkriminalisierung von Bagatelldelikten (na ja, was soll's) oder die Einschränkung des „Geheimdienstunwesens“ (!) fordert – obwohl doch der allumfassende Glückszustand eingetreten ist, daß Hunderttausende „jetzt endlich deutsche Staatsbürger werden“ können.
Ich versperre mich diesem demokratischen Fortschritt keineswegs, zerbreche mir aber den Kopf über die Logik dieser Argumentation. Irgendwo muß sie sein, vielleicht ist sie aber auch in der städtischen Unterhaltungskultur untergegangen.
Sattelfester Antifundamentalist jedenfalls, soviel steht fest, ist, wer nun, da die „andere Seite“ zur „Vorderseite“ geworden ist, umgehend von der anderen Seite auch auf die Vorderseite herüberhopst, diese möglichst noch überholt und so schnell wie möglich Werbetexte des Inhalts zu Papier bringt, daß jüngst, genauer: am 27. September, 18 Uhr, eine „Revolution der Rechtsgrundlagen unseres Zusammenlebens“ eingetreten sei. Eine Revolution! Der Rechtsgrundlagen! Unseres Zusammenlebens! Und das per Wahlzettel, na ja, der doppelte Genetiv wird's schon richten.
Offenbar haben die revolutionären Veränderungen dieser Tage die Geschäftsgrundlagen des kritischen Journalismus und womöglich der schreibenden Intelligenz überhaupt erschüttert. Diese Bagage steckt ja, nach sechzehnjähriger Hochkonjunktur, in einer Krise wie schon lange nicht mehr. Nur die Älteren unter uns erinnern sich noch an einen ähnlichen Identitätsbruch in der oppositionellen Belletristik vor fast dreißig Jahren, mit Beginn der sozialliberalen Koalition. Eine große Ratlosigkeit brach aus, der die damaligen Fundamentalisten nur dadurch Ausdruck zu verschaffen wußten, daß sie sich aus Verzweiflung lange Haare wachsen ließen, brüllend durch die Straßen zogen und andere Zeichen gesellschaftlicher Unzurechnungsfähigkeit absonderten. Die Ergebnisse sind bekannt.
Solchen Anfängen ist beizeiten zu wehren. Man kann aus Fehlern lernen. Und tatsächlich ergibt sich ja aus Frank Schirrmachers neulich geäußerter, zutreffender Bemerkung, die intellektuelle Opposition gegen Kohl sei streckenweise kohliger als Kohl gewesen (denken wir nur an die unvermeidliche Birne oder die schon weißkohlförmigen Satiren, die sich Bednarz regelmäßig in „Monitor“ geleistet hat), die reziproke und hundert Prozent logische Schlußfolgerung, daß das intellektuelle Design nach erfolgter Umschaltung auf Schröder unbedingt schrödiger sein müsse als Schröder selbst. Soweit ist man also am Potsdamer Platz und Umgebung durchaus auf zack.
Andererseits – „ein Stadtschloß macht noch keinen Hindenburg“, und eine einzige Mariam Lau wird noch nicht ausreichen, um die Heerscharen schrecklicher Fundamentalisten aus ihrem Katastrophenbunker aufzuscheuchen und zu Trommlern für die neue Regierung zu machen. Schade eigentlich, da jetzt doch „umstandslos“ in Angriff genommen wird, „wofür man jahrzehntelang getrommelt hat“: die Verkinkelung der Außenpolitik, die Schily-veredelte Version des Lauschangriffs und Veba- Atomlobby-Müller als Wirtschaftsminister.
Aber vielleicht kauft ja Herr Hombach, der designierte Kanzleramtsminister, demnächst die taz. Eine Perspektive, aus der sich durchaus strategische Maßnahmen zur Vervollständigung der Berliner Republik ergeben könnten: Die taz zieht, anstelle Hindenburgs, in das wiedererrichtete Schloß; Berlin erhält ein weiteres Signum moderner Kapitalrepräsentanz; die urbane Unterhaltungskultur gewinnt an Glanz; die Reste der linksliberalen Presse könnten in Marzahn angesiedelt werden; und die schrecklichen Fundamentalisten, soweit sie nicht ohnehin mit der linksliberalen Presse identisch sind, werden in den Bunker der alten Reichskanzlei ausgelagert. Sollte der den Baggern zum Opfer gefallen sein, könnte man sie auf den Acker nach Friedrichsfelde schaffen.
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