Krankheit aushalten und verstehen

■ Zwei Choreographien als Doppelprogramm in der Tanzfabrik: „Iosis“ von Dieter Heitkamp und „Ikarus – how to fly“ von Helge Musial

Niemand kann aus seiner Haut. Niemand kann aus seinem Körper. Dennoch ist er unserem Bewußtsein oft so fern wie der Mond. Erst, wenn der Körper nicht mehr funktioniert, beginnen wir auf seine Botschaften zu achten und seine Symptome wie einen fremden Text zu entschlüsseln.

Das Leben in seinen physischen Strukturen zu begreifen, das ist ebenso Anliegen des Tanzes wie der Biologie. In „Iosis“, dem neuen Tanzstück von Dieter Heitkamp, begegnen sich Kunst und Wissenschaft im staunenden Blick auf Zellen, Geflechte und Labyrinthe, die abbilden könnten, aus was wir bestehen. Zwischen den Bildern, die auf verschiebbare Wände projiziert werden, rumoren vier Tanzende gegen die engen Grenzen des Leibes. Die Männer rennen gegen die Wand und werfen sich auf Bodenmatten, als gälte es, alle Weichheit unter stahlharten Muskeln zu verbergen. Josephine Evrard hustet ins Diktaphon und hört die Geräusche wieder ab. Susanne Martin schiebt ihren roten Schopf durch die Beine der anderen wie ein ausschlüpfendes Küken.

In Duos, Trios und Quartetten schließen sich die vier zu mehrteiliger Lebendigkeit zusammen, drücken, schieben, ziehen, zerren, fallen und rollen übereinander und verschmelzen in ihren Reaktionen. So strahlt „Iosis“ sowohl etwas von der verschwitzten Intimität der Turnhalle wie von der Sterilität in Krankenzimmern und Laboren aus: all diese verschiedenen Blicke, die den Körper vermessen und analysieren.

Doch in den Bewegungen, im plötzlichen Wirbel der Glieder und in den unvermuteten Beziehungskonstellationen der Gruppe entzieht sich das Lebendige immer wieder dem normierenden Zugriff. Mit diesem Zwischen-den-Bildern-Tanzen knüpft Heitkamp an die Bildsprache früherer Choreographien an. Die Bilder sind fast alle rot; die Kostüme weiß und grün wie die Tracht im Operationssaal. Vorausgegangen war dem Stück die Lektüre von Derek Jarmans Buch „Chroma“, einer sehr persönlichen und emotionalen Farbenlehre des Malers und Filmemachers.

Manchmal löst sich „Iosis“ in ein bloßes Farbenspiel wie eine bewegliche Malerei auf; dann wieder erinnert es an anatomische Präparate, für die auch der britische Künstler Damien Hirst eine Vorliebe entwickelt hat. Gedanken an Verletzlichkeit und Krankheit aushalten; auch dies schiebt sich zwischen die spielerischen Szenen. Die zweite Choreographie des Doppelprogramms stammt von Helge Musial, der von einem Schüler der Tanzfabrik zu einem ihrer Lehrer, Tänzer und Choreographen wurde. Sein Hang zum Ballett schlägt auch in „Ikarus – how to fly“ wieder in der Liebe zum Pompösen durch. Schon die Musik häuft mit Käuzchenschreien, Panflöte, Trommeln und Glasharfe soviele Klischees von Dschungel, Wildheit und Exotik auf, daß die Tänzerin Peggy Ziehr und der Schauspieler Marian Wagner Mühe haben, vor dieser akustischen Kulisse nicht einfach als Tarzan-und-Jane- Verschnitt zu wirken. Ziehrs spinnenähnliches Lauern und spitzfüßiges Beinewerfen ist weniger erotisch als vielmehr peinliches Abziehbild weiblichen Lockens.

Leider fehlt in dieser Interpretation des mythischen Stoffes Dädalus, der die phantastischsten Dinge mit praktischem Verstand erfand, während sein größenwahnsinniger Sohn die einfachsten Regeln nicht begriff. So wird man zum tragischen Helden. Katrin Bettina Müller

„Iosis“ und „Ikarus – how to fly“ in der Tanzfabrik, Möckernstraße 68, bis 6. Dezember, jeweils Freitag bis Sonntag, außer 1. November, um 20.30 Uhr.