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Ein Zweifler an der Macht

Wolfgang Thierse ist neuer Bundestagspräsident. Früher wurde der Intellektuelle als Antityp des Politikers gefeiert, heute gilt der Ostdeutsche vielen als ein geborener Verlierer  ■ Von Jens König

Ausgerechnet Gelassenheit. Wolfgang Thierse antwortet im FAZ-Magazin auf die Frage nach seiner Lieblingstugend: Gelassenheit. Das ist etwa so, als würde Gerhard Schröder Frühlingsrolle als sein Lieblingsgericht bezeichnen.

Man hat sofort die Szene vor Augen, wo Thierse im Wahlkampf auf Gregor Gysi trifft. Beide Politiker stehen mutterseelenallein im Fernsehstudio, kein Moderator, keine Gäste. Die ARD hat einen „Zweikampf“ über den Osten und den Umgang mit der PDS vorgesehen. Thierse legt los. Er hat zwei engbeschriebene Blätter vor sich liegen. Dabei hätte seine flehende Botschaft an Gysi mühelos auf einen kleinen Zettel gepaßt: Bitte treten Sie nicht zur Wahl an! Thierse redet und redet. Er hört gar nicht mehr auf. Er zitiert aus dem Wahlprogramm. Erstens, zweitens, drittens, viertens, fünftens. Seine Arme rudern durch die Luft. Sein Schlips hängt schief. Der kleine Gysi schaut ihm lächelnd dabei zu, und mitten hinein in Thierses Vortrag fragt er: „Warum hecheln Sie denn so?“

Thierse guckt entgeistert. Das Duell ist entschieden.

Vor ein paar Jahren ist Wolfgang Thierse noch gefeiert worden. Er war der Intellektuelle, der Moralist, der Unbequeme im sonst so verkommenen Politikgeschäft. Ein Antityp mit langem Bart und ewig zerzausten roten Haaren, ehrlich und selbstkritisch. Thierse war sich stets bewußt, daß die Gefahr der Selbsttäuschung nirgends so groß ist wie in der Politik. Deswegen war sein Ehrgeiz begrenzt. Er mußte nie etwas werden in der Politik. „Da, wo ich bin“, sagte er immer, „bin ich nur durch glückliche Umstände.“

Als der Germanist Wolfgang Thierse im Herbst 1989 die ersten zaghaften Schritte aus seinem privaten Leben hinaus in die Welt der Politik geht, benimmt er sich so, wie es seinem Wesen entspricht: Er sitzt in den hinteren Reihen und gibt kluge Ratschläge von sich. Das ist beim Neuen Forum und ein paar Monate später bei der Ost- SPD so. Er denkt über Grundsätzliches nach, schreibt programmatische Texte und äußert sich zur Kulturpolitk. Er hat Lust am Debattieren – zum Macher fühlt er sich nicht berufen. Sein ganzes politisches Talent bestehe darin, sagt er, im persönlichen Gespräch zu überzeugen: „Sonst habe ich nichts.“

Trotzdem – oder deswegen? – wird Thierse 1990 nach oben geschleudert: Chef der Ost-SPD, nach der Parteivereinigung stellvertretender SPD-Vorsitzender und Fraktions-Vize. Der Skeptiker bleibt sich dennoch treu. 1992 lehnt er ab, Chef der Berliner SPD zu werden. Thierse ist der letzte, der bestreitet, daß Politik mit Macht zu tun hat, aber er sieht das eher als unangenehme Notwendigkeit. Er ist immer wieder irritiert, wenn er die Macht zu spüren bekommt. Als die Berliner Sozialdemokraten sich gegen ihn wehren, schreckt er davor zurück, ihren zerstrittenen Landesverband zu übernehmen. Sein Verzicht macht Schlagzeilen. Der Zweifel ist Thierses Erfolgsrezept, schreibt die Zeit. Seine Unbequemheit macht ihn populär, obwohl Thierse doch eigentlich unpopulär ist. Populär ist, was die Mehrheit sagt, und das war ihm schon immer verdächtig: „Ich glaube nicht an die Wahrheit der Mehrheit.“

Unter Minderheitserfahrungen hat Thierse nie wirklich gelitten. Dieses Selbstbewußtsein hat er von seinem Vater, einem Rechtsanwalt, der seinen Sohn dazu anhielt, den eigenen Erfahrungen mehr zu trauen als dem, was alle sagen. Thierse war immer in der Minderheit. Als Katholik im protestantischen Kaff Eichsfeld, wohin die Eltern aus dem schlesischen Breslau geflüchtet waren. Als Mitarbeiter im DDR-Kulturministerium, wo er entlassen wurde, weil er gegen die Ausweisung von Biermann protestiert hatte. Als Wissenschaftler am Zentralinstitut für Literaturgeschichte, wo er zu den wenigen zählte, die nicht in der SED waren.

In der Minderheit ist Thierse auch bald in der Bonner SPD. Am Anfang beeindruckt die „Stimme des Ostens“ die Genossen noch mit ihren klugen, wortgewaltigen Reden und den unbequemen Gedanken über die Vereinigung. Doch bald geht ihnen der Intellektuelle, der sich vor der Macht scheut, auf die Nerven. „Irgendwann hat man die kluge Kassandra satt“, sagen sie. Thierse bleibt in der Partei ein spröder Einzelgänger. Ein führender Sozialdemokrat spottet, wenn er an Thierse denke, tauche das Bild eines Imkers auf, „der den Bienen nachsteigt, in die Senke stolpert, sich dabei den Fuß verrenkt und wieder aufsteht, um den Spuren erneut zu folgen“.

Thierse steht seit Jahren im sozialdemokratischen Machtzentrum, aber eine gewichtige Rolle spielt er fast nie. 1994 steht er zwar noch in Rudolf Scharpings Wahlkampfmannschaft. Aber schon 1996, als die SPD ihr Forum Ostdeutschland gründet, geht Thierse leer aus; Manfred Stolpe wird Chef. Zwei Jahre später wird Thierse wieder ausgebootet. Nicht ihn, sondern den blassen Rolf Schwanitz macht Gerhard Schröder zu seinem Ostbeauftragten. Mit einem einzigen Satz demontiert Schröder den bisherigen Ober-Ossi: „Was will der Thierse denn, der gewinnt ja nicht einmal seinen Wahlkreis.“

Plötzlich ist Thierse für alle der geborene Verlierer. Der Intellektuelle, der Moralist, der Unbequeme, der nie in irgendwelche Ämter drängt – wofür er früher gefeiert wurde, das macht man ihm jetzt zum Vorwurf. Es werden Zeichen seiner Schwäche. Und Thierse spürt das. Er benimmt sich wie jemand, der beweisen möchte, daß er nicht der ist, für den er gehalten wird. Auf einmal möchte er unbedingt etwas werden – und verliert seine Gelassenheit. Er geht sogar zum Friseur, zum erstenmal seit zwanzig Jahren. Dabei standen gerade sein Rübezahlbart und sein Flatterhaar für sein Anderssein. Daß er sich gerade jetzt Bart und Haare schneiden läßt, als sich Schröder und dessen neue Mitte anschicken, die Macht zu übernehmen – das ist für viele seiner Wähler ein Verrat am Osten. Dabei ist es eher ein Verrat an sich selbst.

Wolfgang Thierse erleidet seine größte politische Niederlage genau in dem Moment, in dem er wie nie zuvor um die Macht gekämpft hat. Als in Bonn alle mit Schröder den Wahlsieg feiern, sitzt Thierse geknickt in der Ecke. Zum zweitenmal hintereinander hat er in Berlin seinen Wahlkreis Mitte/Prenzlauer Berg an die PDS verloren. Nur 278 Stimmen fehlen ihm diesmal. „Ein mehr als zufälliges Wahlergebnis“, sagt er. Dieser Satz paßt zu seiner neuen Frisur.

In der Stunde des größten Triumphs der SPD sieht Wolfgang Thierse auf einmal wirklich wie der personifizierte Verlierer aus. Vielleicht schien dieser Moment der Tragik den Sozialdemokraten geeignet, sich mit einem ihrer größten Zweifler zu versöhnen. Vielleicht schien ihnen Thierse aber auch nur harmlos genug, um genau ihn zum Bundestagspräsidenten zu machen.

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