Im Gänsemarsch zum Arbeitsamt

■ Nach dem Rausch der Kater? In Potsdam begrüßt Alexander Hawemann die frischgebackene rot-grüne Bundesregierung mit „Furcht und Hoffnung in Deutschland“ von Franz Xaver Kroetz

„Deutschland“ steht in Varietéschrift vor rotem Samt über der Bühne (Sibylle Gädeke), darunter drei Wohnkäfige, in denen die heruntergekommenen Verkaterten in blauen Trainingsanzügen vor dem Fernseher hängen. Otto (Roland Kuchenbuch) trinkt Bier aus der Dose, die anderen bewegen sich wie Comicstrip-Figuren oder streiten in komischem Sprechrhythmus fast wie in der Augsburger Puppenkiste.

Nach dem Rausch kommt der Kater: Diese Inszenierung von Alexander Hawemann dürfte ein treffliches Einstandsgeschenk für Herrn Schröder und Joseph Fischer sein. Franz Xaver Kroetz' Stück von anno domini 1984 „Furcht und Hoffnung in Deutschland“ ist heute hoch aktuell. Die kleinen Leute, die Abgestumpften, die „Freigesetzten“, dumpfe Grunzer sind sie geworden. Willi Gerngroß (Robert Kuchenbuch), der mit dem Audi80, sagt, daß er Nummer 123.654 sei, dann blickt er unsicher zur Seite, „von sechs Millionen“. Diese Puppe mit der apathisch rauchenden Frau Martha (Diana Dengler) an der Seite hat die neue Lage begriffen und will den Gürtel enger schnallen.

Zwei Paare und Otto, Abgewickelte, die sich bis zur grotesken Selbstanklage beschimpfen, drehen auf, ohne daß im Unterton Moral, Anklage oder gar Agitation zu hören wäre. Hawemann destruiert in seiner Simultanszenerie den Kroetzschen Realismus, indem er alles als eine Fernseh-Gameshow mit einem servilen, glatten Moderator (Torsten Bauer) inszeniert.

Da geht es auf zum Ententanz oder im Gänsemarsch zur Arbeitsamtnummer. „Kann kommt von können“, dröhnt der skurril intonierte Sprechgesang. Hier darf der Zuschauer mitmachen, lachen und vor allen Dingen kaufen: Die da oben so dümmlich in die Röhre Glotzenden, die gibt es im Sonderangebot, 49,99 Mark, allerdings nur, wenn man den „alten Sack“ Otto dazunimmt. Der Mensch nämlich ist in dieser harten Lesart zur Sau geworden; diesen Otto, den gibt es aber tatsächlich im Flur des Sozialamts Neukölln.

Bei Hawemann stimmen die Details. Ottos Zimmer hat eine Tapete mit Schweinsmuster, Karl (Christian Kuchenbuch) mit T-Shirt wird blasphemisch gekreuzigt, und seine bekittelte Anna (Claudia Meyer) ist genauso brutal und obszön wie er. Langeweile und Depression, Märsche im Karree der Plattenbauwohnung, Geilheit und Gewalt, parallele Suizide, rote und braune Parolen, Ausländerhaß, Rollentausch – Hawemann zieht alle Register seiner ungewöhnlich unterhaltsamen Theaterkunst. Wenn dann alle im Tableau um Otto gruppiert sind, treibt die Szenerie in eine gespenstische Hitleriade, die härter und primitiver ist als Heiner Müllers Abgesänge auf den Führer. Hier sitzt so einer, „recht hat er, der alte Sack“, und Otto trägt natürlich die klebrigen schmuddeligen Haare in die Stirn gekämmt.

Und dann plötzlich werden die beeindruckenden eindreiviertel Stunden stiller. Vereinzelt stehen, sitzen, liegen die Figuren da und werden Subjekte aus Fleisch und Blut. Das permanente stumpfsinnige Repetieren hört auf, die Träume sind ausgeträumt, die Hysterie, das Kasperltheater ist vorbei. Im Zwielicht lernen wir – hinten dreht sich der rote Wolkenhorizont –, daß sie doch Menschen sind, Verzweifelte. Axel Schalk

Nächste Aufführungen: 6. und 21.11., 19.30 Uhr, Hans-Otto- Theater Potsdam, Theaterhaus am Alten Markt