: Thierse als Trendsetter
■ Bundestagspräsident verschmäht Dienstvilla
Der neue Bundestagspräsident hat schon öfter bewiesen, daß er ein unberechenbarer Querkopf ist. Erst hat Wolfgang Thierse (SPD) mit dem Schneiden seiner Haare für den Wahlkampf Mut zum eigenen Gesicht bewiesen und sozusagen alte Zöpfe abgeschnitten. Obwohl ihn das um den Sieg in seinem Wahlkreis Mitte/Prenzlauer Berg gebracht hat, setzt er jetzt, da die Haare etwas nachgewachsen sind, zu einem neuen Coup an. In einem Interview hat er erklärt, er wolle nicht in die Dienstvilla des Bundestagspräsidenten in Schmargendorf ziehen. Statt in dem im Stil eines englischen Landhauses erbauten Domizil von Süssmuth zu residieren, will er in seiner Dreieinhalb- Zimmer-Wohnung samt Wohnküche am Kollwitzplatz bleiben.
Nachdem sich Thierse nicht mit dem Stellvertreterposten zufriedengeben wollte, verschmäht er jetzt eine 640 Quadratmeter große Villa mit einem 5.725 Quadratmeter großen Grundstück! Soll einer die Ostler verstehen. Das mit den Haaren war ja noch okay, endlich konnte man Thierses wahres Gesicht erkennen. Doch daß er die für 4,5 Millionen Mark umgebaute Dienstvilla inklusive Videokameras, zentimeterdicken Spezialgläsern und Wachhäuschen zurückweist, steht ihm nicht so gut zu Gesicht. Wie stellt sich Thierse das eigentlich vor? Der Bundestagspräsident – dein Freund und Nachbar, der die Kinder aus dem Haus beim Toben auf dem Spielplatz auf dem Kollwitzplatz beaufsichtigt und alten Damen die Einkäufe nach Hause trägt?
Auch die Kanzlergattin hat schon verkündet, nicht im Kanzlerbungalow wohnen zu wollen. Ein Trend zeichnet sich ab. Thierse, die „Stimme des Ostens“, wird zum Trendsetter West. Wenn nun aber dessen standesgemäße Unterbringung eine bescheidene Altbauwohnung sein soll, wie sollen dann ein Außen- und Innenminister oder gar ein Bundeskanzler residieren? Ganz einfach: Joschka Fischer bekommt bei Thierse, den er nur vom Namen kennt, ein Gästebett, Otto Schily kann sich in einer Mietwohnung in Neukölln ein Bild von der Kriminalitäts- und Ausländerlage in der Hauptstadt machen, und der eitle Gerhard Schröder zieht nach Mitte, weil es dort eine Schröderstraße mit einer Gaststätte namens „Schröder-Klause“ gibt. Doch Vorsicht: Vielleicht verbirgt sich hinter Thierses Kollwitzplatz-Verbundenheit nichts anderes als Treue zu seinem Haarstylisten. Denn Frisöre werden auch unter Rot-Grün die besten Geschichten zu erzählen haben. Barbara Bollwahn
de Paez Casanova
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