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Die Bremer Filiale der Hölle

■ Schoah-Überlebende Lilly Kertesz liest sonntags aus ihren Erinnerungen an Auschwitz und Bremen

Eigentlich wollte sie am 4.4.44 heiraten, doch dann kamen die Deutschen nach Ungarn. „Auf der Hauptstraße marschierten Soldaten in grauer Uniform, mit durchdringendem Schritt, in endlosen Reihen. Deutsche! Ihre Stiefel klapperten über die Straße von Rimaszombat“, erinnert sich Lilly Kertesz.

An diesem Tag, dem 19. März 1944, hieß sie noch Agnes „Lilly“ Weisz und freute sich darauf, bald den Namen ihres Verlobten anzunehmen. Doch kaum ein Jahr später fand sie von ihm nur noch ein Foto in ihrem zertrümmerten Elternhaus wieder. Ihr Verlobter war verhungert, ihre Familie ermordet und sie selbst eine junge Frau, die als displaced person durch Europa irrte. Denn in den Monaten zwischen dem Einmarsch der Deutschen in das heute zur Slowakei gehörende Städtchen Rimaszombat und dem Fund des Fotos hat die damals 21jährige Lilly Kertesz, geborene Weisz, eine Odyssee durch die Hölle überlebt, die damals auch eine Bremer Filiale hatte.

Lilly Kertesz gehörte zu den 700.000 ungarischen JüdInnen, die die Deutschen ab März 1944 erst in Ghettos eingesperrt und dann in die Vernichtungslager deportiert hatten. Die Versuche jüdischer Organisationen in Palästina, diese Menschen freizukaufen, schlugen fehl. Für Lilly Kertesz trug die Hölle die Namen Auschwitz-Birkenau, Bremen-Huckelriede, Stuhr-Obernheide und Bergen-Belsen. Vielleicht, weil sie noch immer davon träumt, vielleicht, weil es immer weniger werden, die davon erzählen können, hat sie ihre Erinnerungen für ein Buch aufgeschrieben, das jetzt unter dem Titel „Von den Flammen verzehrt“ im Bremer Donat-Verlag erschienen ist.

„Hier sind die Soldaten der Britischen Armee! Ihr seid frei!“ lauten die ersten beiden Sätze im Buch. Ein Mann sagt ihn – erneut bei einem Einmarsch, doch diesmal sind es die Engländer, die das Konzentrationslager Bergen-Belsen befreien. Erst 150 fesselnde, erschütternde, in Zitaten manchmal pathetisch wirkende Seiten später erfährt der oft zu Tränen gerührte und genauso oft über das kaum faßbare Geschehen wütende Leser, daß Befreiung ein relativer Begriff ist. Was Peter Pittmann, der sadistische Kommandant im Lager an der Boßdorfstraße in Bremen-Huckelriede, brutale Kapos, der Arzt Josef Mengele und andere willige Vollstrecker nicht vermochten, hätte nach der Befreiung beinahe der Typhus geschafft.

Wochenlang nach dem „Ihr seid frei!“ des englischen Soldaten kämpfte die damals 21jährige Lilly Kertesz ums Überleben, und sie hat im Unterschied zu Zehntausenden von Bergen-Belsen-Häftlingen gewonnen.

Die in Israel lebende Lilly Kertesz berichtet oft nüchtern, sehr bildhaft, fast filmisch. Gewiß wird sie sich schon vor längerer Zeit entschieden haben, von der Hölle zu erzählen, obwohl das für Holocaust-Überlebende in Israel nicht einfach war. Die „Warum habt Ihr Euch nicht gewehrt“-Frage geisterte – wenngleich mit anderer Perspektive – durch Israel wie durch das Nachkriegsdeutschland. Lilly Kertesz ist sich dessen wohl bewußt. Glaubhaft zeichnet sie sich und andere Frauen, von denen sie lernen konnte, als Persönlichkeiten, die ohne ihren Mut, sich gegen die Entmenschlichung zu wehren, gar keine Überlebenschance gehabt hätten.

Das Buch ist voll von erschütternd-einprägsamen Bildern. Manchmal kehren Motive mit veränderten Vorzeichen wieder. So beschreibt Lilly Kertesz, wie eine ausgebombte Bremerin kurz vor Kriegsende ein Hitlerbild im Torso ihrer Wohnung findet und es zertritt. In einem anderen entdecken die Zwangsarbeiterinnen, die in den Trümmern Bremens aufräumen mußten, bei einem Arbeitseinsatz den jüdischen Friedhof und werden von Schulkindern zur Ruhe gemahnt, um die Toten nicht zu stören. Es sind neben dem Gespür für Widersprüche natürlich die vertrauten Orte, die Lilly Kertesz' Bericht von den Erinnerungen anderer Überlebender unterscheiden und ihn in der Region Bremen noch dringender lesenswert machen.

Beinahe wäre er in der Schublade verschwunden. Auf Seite 259 wird Hartmut Müller, der Leiter des Bremer Staatsarchivs, zitiert: „Leider hat das Staatsarchiv Bremen nicht die finanziellen Mittel, diesen Erinnerungsbericht zu veröffentlichen, aber vielleicht können Sie ihn in der Schule verwenden.“ Müller schrieb an eine Lehrerin an der Gesamtschule in Stuhr-Brinkum. Die Schule hat Kertesz Erinnerungen nicht nur im Unterricht verwendet (und einen biographisch-historischen Teil erarbeitet), sondern – zusammen mit dem Bremer Verleger Helmut Donat – dankenswerterweise auch für die Veröffentlichung gesorgt. Christoph Köster

Das Buch: Lilly Kertesz: „Von den Flammen verzehrt – Erinnerungen einer ungarischen Jüdin“, Donat-Verlag, 19.80 Mark.

Die Lesung: Lilly Kertesz liest am Sonntag, 8. November, um 20 Uhr in der Bremer Jüdischen Gemeinde, Schwachhauser Heerstraße 117, aus ihrem Buch.

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