Hitlers willige Nachbarn

Deutschland vor sechzig Jahren. Die Nationalsozialisten zerstören jüdisches Eigentum, Synagogen brennen. Nach der Reichspogromnacht vom 9. November 1938 fliehen viele Juden in die Niederlande. Dort, so hoffen sie, sind sie sicher vor Verfolgung. Tatsächlich aber läßt es das „arische Brudervolk“ nach der Besetzung an Kooperationsbereitschaft mit den Nazis nicht fehlen. Über Lebensgeschichten aus dem niederländischen Grenzdorf Arcen  ■ Henk Raijer

Unser Haus war eine Ruine. Keine Türen, keine Fenster mehr, die Zimmer voller Unrat. Es war ein Saustall, aber uns kam es vor wie ein Palast“, erinnert sich Inge Grünewald an den 1. April 1945, den Tag ihrer Rückkehr ins Leben. „Wir waren nach all der Zeit, die wir uns vor den Deutschen verstecken mußten, so glücklich, wieder zu Hause zu sein, daß uns nicht einmal die Ratten störten“, sagt die heute 69jährige, die seit 1951 in Israel lebt.

Zu Hause. Das war für die Grünewalds, die 1938 vor den Nazis nach Holland geflohen waren, auch nach dem Krieg Arcen bei Venlo. Das Haus am Walbeckerweg, das nur einen Steinwurf von der Grenze entfernt lag. Das früher einem Deutschen gehörte, der seine Kneipe auf den Namen Café Groenewoud getauft hatte. „Zu Hause hieß auch, endlich wieder ohne Angst auf die Straße zu gehen und mit den Freundinnen loszuziehen“, beschreibt Inge Grünewald, im April 1945 knapp sechzehn Jahre alt, ihr Lebensgefühl in den Tagen nach der Befreiung. „Da war ein Gefühl von Freiheit und Hoffnung, das schon da war, als wir das erste Mal in Arcen ankamen und unser neues Leben in dem Haus begannen, das den Namen unserer Familie schon trug.“ Groenewoud – Grünewald.

Das Café Groenewoud steht im April 1938 vor der Pleite. Wenn's hoch kommt, verlieren sich zwei, drei Nachbarn vom Walbeckerweg oder ein paar Stammkunden aus dem Dorf auf ein Bier in die Schenke am Waldrand. Auch der Laden lohnt sich nicht mehr, seit die Kundschaft „von drüben“ ausbleibt. Anton Väth, der seine Landsleute aus Walbeck, Geldern und Krefeld ein Jahrzehnt lang mit billigem Tabak, Tee und Kaffee versorgt hat, will sein Haus im holländischen Arcen verkaufen, will „heim ins Reich“, wo's aufwärts geht, wie es heißt. Die Zeiten sind vorbei, wo er die Ware kiloweise über den Ladentisch schob oder auch selbst mal „zollfrei“ unter die Leute brachte. Seitdem die braunen Machthaber in Berlin die Staatsgrenze hinter seinem Hühnerstall streng bewachen lassen, ist Schluß mit dem lukrativen Geschäft.

Die Schmuggler vom Niederrhein, die in den dreißiger Jahren zum klandestinen Einkauf nach Arcen kamen, scheuen jetzt den nächtlichen Ausflug ins Café Groenewoud. Dafür schleichen sich seit einiger Zeit in der Dunkelheit Menschen über die Grenze, die weder kaufen noch zurückwollen: deutsche Juden, die das Naziregime seit 1933 systematisch aus allen Bereichen des öffentlichen Lebens verdrängt hat. Flüchtlinge, brutal um Besitz und Einkommen gebracht und ihrer elementarsten Bürgerrechte beraubt.

Immer häufiger stehen sie jetzt nachts vor der Tür, mit zerbeulten Koffern, in zerrissenen Mänteln, nachdem sie sich durch das Fichtenwäldchen geschlagen haben, das hinter dem Grundstück der Väths die Grenze zum Reich bildet. „Verängstigt haben sie ausgesehen“, sagt Hanny Väth, die Tochter des Wirts, damals neun Jahre alt. „Die meisten wollten nur wissen, wo es zum nächsten Bahnhof geht, und möglichst schnell weiter.“

Unter den Flüchtlingen ist eines Abends Ende April auch Max Grünewald. Anders als die meisten jedoch ist der Prokurist aus Mönchengladbach, den die Geschäftsführung seiner Bank schon 1935 von seinem Posten „entfernt“ hat, mit Frau und Kindern ins Café Groenewoud gekommen, um zu bleiben. Der Kauf ist schnell perfekt. Anton Väth zieht mit seiner Frau ins Ruhrgebiet, Tochter Hanny bleibt bei den Großeltern im Haus auf der anderen Straßenseite.

„Wir hatten eine herrliche Kindheit in Arcen, mein Bruder und ich“, sagt Inge Grünewald über die Zeit, als sie knapp neun Jahre alt war. Während man die Kinder Tage zuvor in Mönchengladbach noch „dreckige Juden“ gerufen hat, gehören sie in Arcen dazu. „Wir hatten bald Freunde in unserer Straße. Zusammen sind wir morgens die drei Kilometer ins Dorf gegangen und am Nachmittag durch die Wälder gezogen. Im Frühling haben wir Frösche gequält und im Herbst Kastanien geklaut“, sagt Inge Grünewald. „In die Schule bin ich gern gegangen, die Nonnen haben mich immer vorgezogen.“ Und wenn der Herr Pfarrer den anderen Kindern den Katechismus einhämmert, darf Inge ein Buch lesen.

Die Eltern tun sich nicht so leicht. An Geldverdienen ist für Max Grünewald wegen der Rezession in Holland nicht zu denken. Und Gärtnern will gelernt sein: Der Spargel ist blau, noch bevor Jenny Grünewald weiß, wie er geerntet wird, und aus Küken wollen partout keine Hühner werden. Schikanen und Angst jedoch sind bald vergessen. Deutschland scheint weit weg, obwohl die Grünewalds mit einigen Nachbarn deutsch reden können. In ihrer Straße, die nach gut dreihundert Metern und elf Häusern am Schlagbaum endet, leben Deutsche und Holländer Tür an Tür, manche seit Generationen, andere erst seit der „schweren Zeit“ im Reich.

Neu „an der Grenze“ sind außer den Grünewalds die Familien Katzenstein, Sternheim und Terhoch. Es ist kein Zufall, daß die jüdischen Familien es vorgezogen haben, draußen im Wald und nicht im Dorf zu siedeln. Holland hat zwar keine offen judenfeindliche Tradition. Aber sie wissen auch, daß sie „anders“ sind. Und daß die erzkatholischen Dorfbewohner, die in der Regel freundlich sind, sie dennoch mißtrauisch beäugen. Zwar weiß man in dem Ort, in dem 1.500 Menschen leben, daß Grünewalds, Sternheims und die anderen aus Deutschland haben fliehen müssen, weil sie Juden sind. Aber wer weiß, was sie dort angestellt haben... Waren es nicht die Juden, wie der Herr Pfarrer oft so anschaulich schildert, die den Gottessohn ans Kreuz geschlagen haben? „Wir waren zwei Monate in Arcen, da schickten uns die Eltern zum Kohlenhändler, um die Bestellung für den Winter aufzugeben“, erzählt Inge Grünewald. „Da war eine Kundin, die sagte zu uns: ,Ihr seid doch Juden, nicht wahr? Juden sind keine guten Menschen.'“

Daß es inzwischen im Deutschen Reich für Juden immer gefährlicher wird, erfahren die Grünewalds nicht nur übers Radio. Nach der Pogromnacht vom 9. November 1938, als der SA-Mob in Deutschland 91 Menschen ermordet, 250 Synagogen zerstört und 7.500 Geschäfte und Wohnungen jüdischer Bürger verwüstet, klopfen am Walbeckerweg immer öfter Fremde an. Noch sehen Max und Jenny Grünewald keinen Grund zur Sorge, gar zu friedlich ist es in dem Dorf an der Maas.

Erst der Überfall auf Polen am 1. September 1939 vermag die Gemütsruhe der jüdischen Grenzbewohner zu stören. Die vier Familienväter treffen sich jetzt häufiger. Josef Katzenstein ist überzeugt, daß ein Angriff auch auf Holland unmittelbar bevorsteht. Und weil er nicht zum zweiten Mal Opfer der „Arisierungspolitik“ der Nationalsozialisten werden will, verkauft Josef Katzenstein seinen Besitz und verläßt Arcen Ende November 1939 mit Frau und zwei Söhnen in Richtung USA. Max Grünewald, Hugo Terhoch und Otto Sternheim glauben – wie die Mehrheit der Niederländer –, „dieser Verrückte“ werde es schon nicht wagen, die strikte Neutralität Hollands zu verletzen.

Er wagte es. Am 10. Mai 1940 wird Inge Grünewald morgens um vier von einem Geräusch aus dem Schlaf gerissen, das sie von früher kennt und das ihr die nächsten Jahre immer wieder angst machen wird: „,Die Stiefel', sagte Mutter, als wir vom Schlafzimmer aus die Soldaten marschieren sahen. ,Nun haben sie uns doch eingeholt.'“

Die „Landesverteidigung“ bricht nach einer Stunde zusammen, das Häuflein Soldaten, das auf der Straße ins Dorf Barrikaden errichtet hat, ist bald entmutigt. Arcen fällt der Wehrmacht nahezu kampflos in die Hände, zwei Stunden später haben die Invasoren die Maas überquert. Vier Tage „Blitzkrieg“ und die Bombardierung Rotterdams besiegeln das Schicksal der Niederlande – und der Juden, die sich hier in Sicherheit wähnten.

Abgesehen von kriegsbedingten Unannehmlichkeiten wie Arbeitsdienst, Lebensmittelrationierung und abendlicher Verdunkelung ändert sich unter der deutschen Besatzung nicht viel. Auch die jüdischen Bürger läßt man zunächst unbehelligt. Die Soldaten verhalten sich korrekt, schließlich wollen die „Herrenmenschen“ das „arische Brudervolk“ für die großen Ziele gewinnen.

So mancher Arcener braucht nicht erst lange überzeugt zu werden. Kaum hat Holland kapituliert, schließen sich Reichsdeutsche im Ort, die bis dahin nicht auf ihre Herkunft pochten, der NSDAP an. Aus Nachbarn werden Parteileute, die ihren Kindern den Umgang mit Juden verbieten. „Getan hat er uns nichts, der Ortmann von nebenan“, sagt Inge Grünewald. „Aber ich bin immer mit einem komischen Gefühl an deren Haus vorbeigegangen.“ Ihre Freundin Hanny Väth, die – mit mittlerweile holländischem Paß – noch heute in Arcen lebt, erinnert sich, vom Nachbarn als „Judenknecht“ beschimpft worden zu sein. „Für Ortmann waren Grünewalds Untermenschen.“

Im Februar 1941 beginnen in Arcen wie überall im Lande jene „Maßnahmen“, die der „Endlösung der Judenfrage“ vorausgegangen sind. Hollands Beamtenschaft läßt es dabei an Kooperationsbereitschaft nicht fehlen. Am 14. Februar fordert Bürgermeister Pierre Gubbels im Auftrag des Innenministeriums die „personen van joodschen bloede“ seiner Gemeinde auf, sich binnen acht Tagen im Rathaus registrieren zu lassen: Grünewalds, Sternheims und Terhochs bekommen ein „J“ in ihre Papiere gestempelt. Zwei Monate später läßt Gubbels der Wehrmachtsbezirksverwaltung eine „Liste von Personen“ zukommen, „die ein Radiogerät abgegeben haben“. Otto Sternheim und Max Grünewald haben laut Eintragung ihr Gerät „in gutem Zustand“ ausgehändigt.

„Schikanen gegen Juden hat es nicht nur in Amsterdam gegeben“, sagt Jan Keltjens, der nach dem Krieg selbst jahrelang im Rathaus gearbeitet hat. „Auch hier haben die Leute mitgemacht, da kann sich keiner rausreden.“ Bis ins kleinste Detail, sagt Keltjens, der die Akten und den Briefverkehr mit den deutschen Stellen archiviert hat, sei jeder Vorgang, die jüdischen Familien in Arcen betreffend, niedergeschrieben und weitergeleitet worden. „Das hat reibungslos funktioniert.“

Was immer da „von oben“ kommt – Arcens Beamte, die wie fast alle im Land ohne zu zögern ihren „Ariernachweis“ erbracht haben, ziehen eine Nichtbeachtung der antijüdischen Verordnungen nicht einmal in Erwägung. Von Widerspruch keine Spur. Als die Gemeindeverwaltung von Arcen am 19. Dezember 1941 die Anfrage erhält, wieviel Schilder man benötige, die den jüdischen Bewohnern den Zutritt zu öffentlichen Einrichtungen untersagen, steht die Liste noch am selben Tag. Bürgermeister Gubbels ordert für Hotels, Restaurants und Cafés, für den Fußballplatz, den Kinosaal und die Bibliothek insgesamt 38 Plaketten mit der Aufschrift: „Voor Joden verboden“.

Darauf, daß weder ein Max Grünewald noch einer der Gastwirte gegen diese Anordnung zu verstoßen wagt, achten in Arcen nicht etwa die deutschen Sicherheitsorgane, sondern Holländer: Mitglieder der „Nationaalsocialistische Beweging“ (NSB). „Fünfundzwanzig von denen hatten wir hier, darunter auch Leute aus Arcen“, erinnert sich Jan Keltjens, damals zehn Jahre alt. „Die NSBler machten die Drecksarbeit. Die waren fanatischer als die Deutschen.“

Seit September 1941 dürfen in Holland jüdische Kinder nicht mehr die Schule besuchen. „Von einem Tag auf den anderen war Schluß.“ Inge Grünewald ist zwölf Jahre alt. „Unglücklich war ich darüber freilich nicht.“ Zumal die neue „Freiheit“ den Neid der Freundin von gegenüber hervorruft. Hanny Väth, die Deutsche, geht bis Frühjahr 1942 mit einem Passierschein nach Walbeck in die Volksschule. Während die Jüdin den gelben Stern trägt, ist die Deutsche nun Jungmädel und soll nach dem Willen des NSDAP-Ortsgruppenleiters später einmal BDM-Führerin werden. „Einmal die Woche stand der bei uns vor der Tür. Bis es meiner Oma zuviel wurde. Sie hat mich aus der Schule genommen, in Arcen abgemeldet und in Venlo bei den Nonnen im Internat versteckt“, sagt Hanny Väth. „Dort bin ich bis zur Befreiung geblieben.“

Der Name „Westerbork“ ist spätestens im Juli 1942 auch in Arcen bekannt. Seit Ilse, die älteste Tochter der Terhochs, mit Tausenden anderen Amsterdamer Juden in das holländische Durchgangslager verschleppt wurde, ist Westerbork ein Synonym für Abschied. Wer nach Westerbork kommt, wird „auf Transport gestellt“ – angeblich ins Arbeitslager nach Deutschland oder Polen. Am 25. August erhält Inge Grünewalds Mutter Nachricht, daß in Venlo drei ihrer Geschwister abgeholt worden sind. „Wir warteten einige bange Tage. Dann kam Nachricht von Selma aus Westerbork, ihr letztes Lebenszeichen“, wird Jenny Grünewald am 20. August 1945 in einem Brief an Verwandte und Freunde schreiben. „Selma teilte uns mit, daß es ihr nicht gelungen wäre freizukommen und daß sie in einigen Tagen auf Transport gestellt würde. Und daß wir uns wohl sehr lange Zeit nicht mehr sehen würden...“

Die Grünewalds haben Angst. „Wir dachten, daß auch wir jetzt bald an der Reihe wären. Also packten wir unsere Rucksäcke mit dem Notwendigsten und warteten Tag für Tag auf unsere Deportierung – ein nervenzerrüttendes Warten. Doch man ließ sich Zeit, die Beute war ihnen ja sicher“, schreibt Inge Grünewalds Mutter. Sie warten bis März 1943. In dieser Zeit seien in Venlo einige Familien „verschwunden“, erinnert sich Inge. „Es war schwer, ein Versteck zu finden. Wir hatten nicht genug Geld, um zu verschwinden. Die Leute haben das ja nicht umsonst gemacht. Viele Holländer, auch die Leute, die uns dann aufnahmen, haben das nur des Geldes wegen gemacht.“

Mitte Februar 1943 werden Haus und Land beschlagnahmt und an einen verdienten Kollaborateur verkauft. Die Grünewalds bekommen zwei Wochen Zeit, ihr Haus zu räumen. Am 1. März ziehen sie zu Sternheims, die jetzt im Dorf leben, Wertsachen geben sie Arcener Bekannten in Verwahrung. Inzwischen hat jemand aus der Familie Geld besorgt. „Endlich gelang es uns damit, jemanden ausfindig zu machen, der bereit war, uns aufzunehmen“, sagt Inge Grünewald. „Und so verschwanden wir am 4. März 1943 aus Arcen.“

Bürgermeister Gubbels weiß, was von ihm erwartet wird. Kaum haben eifrige NSB-Schergen das Abtauchen der Grünewalds bemerkt, bittet er in einem Schreiben vom 13. März die zuständigen Stellen in Den Haag um Amtshilfe bei der Fahndung nach der jüdischen Familie. Für die Sternheims, die die geflüchteten Freunde als letzte gesehen haben dürften, wird es brenzlig. Mutter und Sohn verstecken sich bei Freunden, beide überleben und wohnen heute in Venlo. Sternheim selbst, damals gerade im Krankenhaus, wird „auf Transport gestellt“. Laut Mitteilung des Roten Kreuzes ist Otto Sternheim am 6. September 1944 in Auschwitz gestorben.

Bürgermeister Gubbels läßt die Wohnung am 2. April versiegeln. Am 10. April teilt er dem Beauftragten des Reichskommissars mit, daß „in dieser Gemeinde freigekommen ist die Wohnung des Juden: Sternheim, Otto. Die Familie bestand aus: 1 Mann; 1 Frau und 1 Kind unter 14 Jahre.“

Dasselbe Schicksal ereilt wenige Wochen später die Familie Terhoch. Die beiden jüngeren Töchter Lore und Elsa, neunzehn und sechzehn Jahre alt, sind seit einigen Tagen „verschwunden“. Ihre Eltern jedoch, die bis zuletzt glauben, aufgrund ihres Alters für die Nazis „uninteressant“ zu sein, werden deportiert. Lore Terhochs Versteck wird entdeckt. Wie es später im Dorf heißt, haben Nachbarn der Gestapo verraten, „daß es in Arcen noch Juden gibt“. Lore Terhoch wird Ende Juli '44 nach Bergen-Belsen verschleppt, wo sie die Alliierten 1945 befreien. Elsa, die Jüngste, ist unentdeckt geblieben. Beide leben heute in Israel. Ihre Eltern sind am 27. August 1943 in Auschwitz gestorben.

Bürgermeister Gubbels beauftragt im August einige Männer mit Erntearbeiten auf dem Hof des Bauern Terhoch und wendet sich zwecks Erstattung der Unkosten (46 Gulden) an die deutschen Stellen. Am 23. August 1943 ist für die Arcener Bürokratie „die Judenfrage“ gelöst.

Grünewalds leben – in ständiger Angst, jemand könnte sie verraten. Die ersten beiden Monate nach ihrem Verschwinden lebt die Familie in einem Gartenhäuschen im benachbarten Velden. „Da verbrachten wir nun unsere Tage in dieser einzimmrigen Holzbaracke. Wir konnten ja nicht heraus, aus Angst vor Entdeckung“, wird Jenny Grünewald nach Kriegsende ihren Alltag im Untergrund beschreiben. „Im Mai wurde es dann zu gefährlich. Erstens war den Leuten dort nicht recht zu trauen. Zweitens warnte uns einer vom Widerstand, daß die Polizei uns auf der Spur sei. Und drittens kam eines Abends unser Hausherr und sagte, er würde inzwischen selbst gesucht. Somit wäre es für uns zu gefährlich, noch länger dort zu bleiben. Wie wir heute wissen, wollte er uns nur los sein, um dann aus anderen Juden Geld herauszuschlagen.“

Ausgestattet mit Lebensmittelmarken und falschen Papieren, die von Widerstandskämpfern „organisiert“ wurden, machen sich die Grünewalds auf die Suche nach einem neuen Versteck. Nachdem sie einige Nächte im Freien verbracht haben, finden sie schließlich eine Bauersfamilie in Sevenum, einem Dorf jenseits der Maas, die bereit ist, die Eltern sofort und ihren Sohn etwas später aufzunehmen. Tochter Inge kommt vorerst bei Bekannten in Venlo unter: „Ich habe dort ein ganzes Jahr lang allein in einem Zimmer gelebt. Ich weiß bis heute nicht, wie ich die Tage rumgebracht habe. Diese Leute dort waren schrecklich, ständig haben sie ihre Kinder geschlagen. Aber sie haben uns geholfen. Wir verdanken denen unser Leben, gar keine Frage. Und dafür werden wir ihnen immer dankbar sein.“

Im März 1944 ist die Familie wieder vereint. In einem Kartoffelsack hat der Sohn der Gastfamilie die Vierzehnjährige nach Sevenum gebracht. Hier hilft Inge im Haushalt. Wie Hans, der als Knecht arbeitet, hält man sie für katholisch. Beide gehen sogar sonntags in die Kirche. Die Eltern bleiben gut anderthalb Jahre in ihrer Kammer. „Wir hatten nun insofern Ruhe, als wir ,seßhaft' geworden waren“, wird Jenny Grünewald später schreiben. „Aber die ewige Unsicherheit, ob man uns nicht doch noch aufspüren würde, blieb.“

Diese Gefahr besteht, denn je schneller die Alliierten vorrücken, desto brutaler schikanieren die Besatzer die Landbevölkerung. In Sevenum kommt es seit dem Sommer '44 fast täglich zu Razzien: Die Gestapo sucht nicht nur Juden, sondern auch Leute vom Widerstand und junge Männer, die sich versteckt halten, um dem „Arbeitseinsatz“ in Deutschland zu entgehen. „Anfang Oktober war es fast um uns geschehen“, schreibt Jenny Grünewald. „Die Soldaten, die mal wieder Männer zum Arbeiten suchten, standen vor der Tür, und wir lagen noch im Bett. Wir hatten in unserem Wandschrank ein Versteck machen lassen. Binnen Sekunden waren die Kinder darin verschwunden, Kleider und Bettzeug hinterher, reingesprungen, dichtgemacht – und schon waren die Verbrecher im Zimmer. Sie durchsuchten alles, doch sie fanden nichts. Wieder mal war uns das Glück hold gewesen.“

Ab Anfang Oktober liegt der Ort unter englischem Beschuß. Weil deutsche Soldaten einquartiert sind, können die Grünewalds nicht in den Keller, wenn ringsum die Granaten einschlagen. „Wir schützten uns, indem wir uns, wenn wir das Pfeifen hörten, in unserem Zimmer auf den Fußboden warfen“, heißt es in Jenny Grünewalds Brief. Am 22. November 1944 begrüßen die Grünewalds die ersten Engländer in Sevenum. „Ihr könnt euch die Gefühle, die uns beherrschten, nicht vorstellen“, schreibt sie, „endlich wieder in Gottes freier Natur spazierengehen zu können, Mensch zu sein wie alle anderen auch...“

Fast fünf Monate muß die Familie noch in Sevenum bleiben, der Vormarsch der Alliierten ist wenige Kilometer östlich ins Stocken geraten. Die Maas bildet einen Winter lang die Front. Arcen, das die Invasion im Mai 1940 unbeschadet überstanden hatte, wird monatelang vom anderen Ufer aus belagert. Anfang Januar 1945 evakuiert die Wehrmacht das Dorf. Bis zum Rückzug der letzten deutschen Soldaten am 3. März 1945 wird Arcen von den Befreiern gründlich zerschossen.

Grünewalds treffen, als sie am 1. April mit einer Sondergenehmigung die Maas überqueren, auf eine Geisterstadt: zerschossen, geplündert, menschenleer. Die meisten Dorfbewohner werden erst Anfang Mai aus dem fernen Groningen zurückkehren. Hanny Väth ist schon seit zwei Wochen zurück am Walbeckerweg, ebenso wie einige andere Bewohner der Grenzregion, die sich selbst ins benachbarte Deutschland evakuiert hatten. Für diese Holländer, die jetzt, nach dem Ende der deutschen Besatzung, ausnahmslos Helden des Widerstands gewesen sein wollen, ist die knapp sechzehnjährige Hanny auf einmal „die Deutsche“, der so mancher ostentativ vor die Füße spuckt. Daß die Grünewalds ausgerechnet „die Deutsche“ auf offener Straße in die Arme schließen, erschüttert das frischgebastelte Selbstbild.

Nach und nach kehren die Evakuierten zurück, unter ihnen auch Bürgermeister Gubbels, der noch bis 1960 im Amt bleiben wird. Während in Arcen noch Jahrzehnte über erfahrenes Kriegsleid palavert wird, reden die Grünewalds über „die Sache“ vorerst nicht mehr. „Inge wollte nicht mehr ständig an ihr Anderssein erinnert werden“, sagt die Freundin Hanny Väth. „Sie wollte endlich ihre Jugend beginnen.“

Und eine Zukunft. Die jedoch ist nicht leicht zu haben. Auf Hilfe des Staates können Inge, inzwischen sechzehn, und ihr achtzehnjähriger Bruder Hans nicht hoffen. Anders als gerne glauben gemacht wird, zeigen die holländischen Behörden den Überlebenden des Holocaust oft die kalte Schulter, wo Hilfe angesagt ist – sei es bei dem Bemühen, die Wohnung wiederzubekommen, eine Arbeit zu finden oder eine Ausbildung zu beginnen.

Zwar geht es den Grünewalds im Vergleich zu anderen Rückkehrern, die von ihren Landsleuten kühl, wenn nicht gar feindselig empfangen wurden, ganz gut. Sie haben immerhin ihr Haus. Auch ihre Wertsachen haben sie wiederbekommen – was im Nachkriegsholland nicht die Regel ist. „Aber wir Kinder hatten doch all die Jahre nichts gelernt“, sagt Inge. „Was lag da näher, als dort neu anzufangen, wo junge Leute gebraucht wurden: in Israel.“

Henk Raijer, 44 Jahre, geboren in Arcen, Niederlande, arbeitet seit 1989 als Tagesthemenredakteur bei der taz.