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Ekstatische Gesänge

■ Nanni Balestrini stellt heute sein Buch „Die Wütenden“ über die Lust der italienischen Fußball-Fans an Randale aller Art vor Von René Martens

Es gab eine Zeit, da kursierte unter den Fans des FC St. Pauli der Schlachtruf „Fußball läßt uns kalt, wir stehen auf Gewalt“, und er war zu verstehen als ironische Reaktion auf das Bild, das die Medien über Fußball-Anhänger verbreiten. Andererseits hatte die Parole auch einen wahren Kern: Wer besessen ist vom Fußball, kennt auch den ambivalenten Reiz der Gewalt, die sich drumherum abspielt, und er weiß, daß man sich dem kaum entziehen kann.

Der Autor Nanni Balestrini vermittelt in dem Roman „I Furiosi. Die Wütenden“ (Edition ID-Archiv) diese nicht zu leugnende Faszination der Fußball-Randale. Der 55jährige Italiener – 1963 u. a. gemeinsam mit Umberto Eco Gründer der „Gruppe 63“ – hat dafür mit Fans gesprochen, die er eher zufällig kennengelernt hatte, denn fußballbegeistert war der Schriftsteller bis dahin nicht gewesen.

Um so erstaunlicher, daß die elf „Gesänge“, wie Balestrini die Kapitel seines Buchs konsequenterweise genannt hat, einen so guten Einblick geben in dieses Gemeinschaftserlebnis Fußball, für das man trostlose und zermürbende Reisen nach auswärts auf sich nimmt.

Balestrinis verschiedene Ich-Erzähler gehören den Rotschwarzen Brigaden des AC Milan an. Sie schildern, wie sie Autobahn-Raststätten und Waffenläden plünderten, wie sie gegnerischen Fans die Transparente und andere „Trophäen“ klauten, und wie Auswärtsfahrten zu Ecstasy-Exzessen ausarteten. Ecstasy-Exzesse? Ja, die italienischen Fans kiffen und saufen nicht nur – im Gegensatz zu den deutschen.

Auch sonst gibt es große Unterschiede. Wer in Italien etwa in einem Sonderzug mitfährt, kommt sich vor wie bei einem Viehtransport, dagegen sind die Auswärtsfahrten hiesiger Fans geradezu Luxusreisen.

Um auch die Sprechweise der Fans wiederzugeben, hat Balestrini in I Furiosi auf jegliche Satzzeichen verzichtet. „es kommt Falco der die Sprechchöre aus der Kurve anstimmt der kommt zusammen mit Cincia die seine Alte ist“, heißt es da. An anderer Stelle werden Lesende in den Orkus des Stadions geführt: „da habe ich einen gesehen der mit einem Taschenmesser auf den Klos die Kacheln abmachte der ist damit in die Kurve zurück und hat sie aufs Feld geworfen während von weiter oben so große Zementbrocken runterkamen“.

Balestrini beschränkt sich in seiner Darstellung darauf, solche Zitate zu montieren, er als Autor „verschwindet“ gewissermaßen, wie der Corriere della sera schrieb, und so vermeidet der Autor jegliche moralinsauren Zwischentöne. Wer sie vermißt, kann ihm das heute abend mitteilen, denn nach der Lesung wird diskutiert.

Nanni Balestrini liest heute in der Stadtteiletage, Bartelsstr. 12, um 20 Uhr

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