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Synapsen Cocooning

■ Die Hamburger Techno-Szene gibt es jetzt sogar als Buch: „No Rites“

In den letzten Wochen sind ein halbes Dutzend Bücher erschienen über Techno, House und das DJ-Wesen, und ein gutes Zeichen ist das nicht. Bisher hat sich Techno – zumindest der jenseits der Kirmes-Musik von Marusha, Mark Oh und anderen – dadurch ausgezeichnet, daß er sich viel zu schnell entwickelte, als daß jemand es riskiert hätte, ein Buch darüber zu schreiben. Zu groß war das Risiko, es könnte zum Veröffentlichungstermin schon überholt sein. Wenn jetzt also mehrere Bücher erscheinen, dann deutet das darauf hin, daß die Szene stagniert.

Dennoch wäre gar nichts einzuwenden gegen ein Buch über Techno, enthielte es ein paar gute Gedanken, die in Zeitschriften oder Liner Notes bisher nicht oder nicht breit genug ausgeführt worden sind. Diesen Maßstab erfüllen die bisher erschienene Bände kaum – erst recht nicht No Rites, ein von Xenia Bahr und Oliver Roßdeutscher herausgegebenes Buch über die Hamburger Techno- und House-Szene im allgemeinen sowie ihre „Persönlichkeiten“, nämlich DJs, Barfrauen und Club-Stammgäste, im besonderen.

Der entscheidende Makel von No Rites ist natürlich, daß die Szene zu bedeutungslos ist, als daß ein Buch über sie gerechtfertigt wäre. Die maßgeblichen Vertreter der hiesigen elektronischen Tanzmusik leben und arbeiten in Frankfurt, Köln, München und Berlin, aber in Hamburg gibt es kaum relevante Figuren – mit Bandmusik hingegen verhält es sich bekanntlich genau umgekehrt. Zu den positiven Erscheinungen der Hamburger Dance-Szene gehört das House-Label Ladomat, es ist eines der besten der Republik – in No Rites allerdings wird die Firma nicht einmal erwähnt. Dafür ist es einem U-Boot-Funker, der aus der „nicht-politischen“ Skinhead-Szene stammt, gelungen, zu den 64 „Persönlichkeiten“ der Szene gekürt zu werden.

Es gibt in diesem Buch nur einen wichtigen Beitrag: den einleitenden Text von Michael Lingner. Der HfbK-Professor – in einem seiner Seminare entstand die Idee für No Rites – stellt Verbindungen her zwischen Nietzsche und Techno, Überschrift: „Wie müßte eine Musik beschaffen sein, welche dionysischen Ursprungs wäre?“ Der Text ist nicht etwa wichtig, weil er gut ist – er ist, im Gegenteil, unlektorierbar, aber immerhin so grotesk, daß man hoffen darf, kein Hornochse werde in Zukunft mehr Techno in einen hochkulturellen Kontext einbinden und Aufsätze verfassen, in denen, wie Jürgen Roth sagt, „die Analogiebildung den Gedanken ersetzt“. Die Wirkungen von Techno seien „Nietzsches Vorstellungen vom Dionysischen durchaus verwandt“, schreibt Lingner. „Und da es diesem dionysischen Rausch zudem eigen ist, durch hohe technische Rationalität mit kühler Perfektion hervorgerufen zu werden, was die Musik in ihrer minimalistischen Abstraktheit zwar höchst wirkungsvoll, aber völlig sinnleer macht, so daß es jedem selbst überlassen bleibt, seine eigene Melodik und Bedeutsamkeit in die Rhythmusketten gleichsam apollinisch hineinzuphantasieren . . .“ und so fort.

Der Hauptteil des Buches besteht aus Kurztexten über die 64 „Persönlichkeiten“. Einige von ihnen porträtieren sich selbst, andere werden in Interviews vorgestellt. So schreibt der Hardtrance-DJ Gary D einen Schulaufsatz über sein Leben, über Malte Möller erfahren wir, daß er nicht nur die Lichtanlage im Unit rockt, sondern auch „assoziative Lyrik“ verfaßt, von der auch gleich etwas abgedruckt ist: „1 kleines bißchen Synapsen Cocooning / Traumkameraperspektiven in Egovision / sensorische Bandpassfilter stabiler gemacht / Konsum statt Rationalität / Masse ist massig, Elite ist elitigst.“ Darüber hinaus gibt ein Student der Kulturwissenschaft Tips für die richtige Flirt-Strategie („Leichte Berührungen mit den Händen lassen sich spielerisch in den Tanzablauf integrieren, ohne plump und aufdringlich zu wirken“).

Nahezu sämtliche Texte leiden unter der schwerwiegenden Formulierungsinsuffizienz der Autoren. Übrigens enthält das Buch noch 70 einseitige Farbfotos. Nützt aber auch nix. René Martens

Xenia Bahr/Oliver Roßdeutscher (Hrsg.): No Rites, Kellner Verlag, 192 Seiten, 35,– Mark

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