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Kuriositäten und Pretiosen

■ Neuer Ortskern geplant: Das Gaswerk an der Gasstraße soll den Charme des ehemaligen Dorfes Bahrenfeld wiederherstellen Von Heike Haarhoff

Die Straßenbezeichnung Bahrenfelder Marktplatz könnte anachronistischer nicht sein: Abgesehen von den Blechkolonnen vor der Auffahrt zur Autobahn 7 erinnert nichts mehr an das einst geschäftige Markt-Treiben auf dem Platz westlich der Pfitznerstraße. Als im Betonbauwahn der frühen 70er Jahre die Elbe untertunnelt und die Westtangente trassiert wurde, mußte der traditionelle Ortskern des seit dem 13. Jahrhundert bestehenden Dorfes Bahrenfeld leider unter der neuen Straßendecke versinken. Bahrenfeld – ein Gebiet, das sich seit 1892 zunehmend zu einem kuriosen Stadtteil entwickelt hatte, in dem Industrie-, Gewerbebetriebe und Arbeiter-Geschoßwohnungsbau scheinbar völlig konzeptionslos ineinander übergingen – wurde zerschnitten; der alte Ortskern verschwand.

Bahrenfeld heute: Ein paar Schornsteine, viele stillgelegte Fabriken, auf deren Höfen sich Schrott und von wo auch immer ausgesamte Pflanzen miteinander arrangiert haben, Auto-Reparaturwerkstätten, Klempnerbetriebe, Lackierereien, Baumärkte, Fliesen-Läden, holprige Straßen mit Kopfsteinpflaster, Mehrfamilienhäuser aus Backstein und über allem der charakteristische Geruch von Gewürzgurken, Essig und Sauerkraut – egal, wie der Wind steht. Und dann natürlich Pretiosen wie das „Königliche Proviantamt“ an der Mendelssohnstraße, wo der dänische König einst seine Brötchen backen ließ und heute der gutbürgerliche Norddeutsche Labskaus speisen geht.

Der von vielen verkannte Charme Bahrenfelds soll jetzt durch den Bau eines neuen Ortszentrums so richtig zur Geltung kommen: Ende Juli schrieb die Stadtentwicklungsbehörde – Senator Mirows Lieblingsidee der „identitätsstiftenden Wohnquartiere“ läßt grüßen – einen städtebaulichen Wettbewerb aus zur Gestaltung eines Stadtteilzentrums mit Läden, Veranstaltungsräumen und Wohnungen auf dem 22 Hektar großen Gebiet des ehemaligen städtischen Gaswerks zwischen Gasstraße, Daimlerstraße, Bahrenfelder Chaussee und Woyrschweg. Ursprünglich hatten Bezirkspolitiker aus Altona angeregt, eine neue Ortsmitte für Bahrenfeld zu planen, damit die Einwohner nicht mehr mindestens 1,5 Kilometer bis zum nächstgelegenen Einkaufszentrum zurücklegen müssen.

Der 1989 von der Senatskommission gefaßte Beschluß, die Idee der Ortsmitte zu realisieren, bildet Grundlage des städtebaulichen Wettbewerbs, an dem sich fünf Architekturbüros beteiligt haben und über den ein Preisgericht am 6. November entscheiden wird. Für das neue Ortszentrum stehen alternativ das Gelände des in den 50er Jahren stillgelegten Gaswerks und das frühere Straßenbahndepot an der Mendelssohnstraße / Ecke Nettelbeckstraße zur Wahl.

Je nach Standort wären 90 000 bzw. 11 500 Quadratmeter Bruttogeschoßfläche (BGF) möglich. Nutzungs-Vorgaben sind Platz für 350 (Sozial-)Wohnungen in der unmittelbaren Nachbarschaft zum eigentlichen Ortszentrum mit Verwaltungsräumen, Bücherhalle, Veranstaltungs- und Konzertsaal, Ärztehaus, Grün- und Marktflächen.

Das gesamte Gaswerksgelände – im Besitz des Investors Becken und der Vermögensverwaltung Hollmann-Peters-Vogler – wurde 1892 gebaut und von der Kulturbehörde wegen seiner einmaligen Industriearchitektur als „denkmalwertes Objekt“ eingestuft. Für die vier riesigen, roten Ziegelstein-Hallen mit Klötzchenfries und Satteldächern laufen die Unterschutzstellungsverfahren. Die Gleisanlagen, die von Blankenese über eine Eisenbrücke direkt in die erste Etage der früheren Kohlehalle führen, sollen als Denkmal und Kulisse für kulturelle Veranstaltungen ebenso erhalten bleiben wie der 35 Meter hohe Kohleturm.

Und wenn die Planer ganz liebevoll vorgehen, bleiben vielleicht sogar die Brachflächen zwischen den inzwischen ziemlich verfallenen Gebäuden, auf denen Birken, Sträucher und sonstige im Laufe der Jahre wild und spontan aus dem Boden gesprossene Pflanzen den eigentlichen Reiz des Geländes ausmachen, erhalten.

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