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Kreuzberger Mix-Max-Show

■ Niemand erlag der Illusion einer Mega-Veranstaltung, so wurde die Freitagnacht der Bücher in der Oranienstraße ein stiller Knüller

Die Oranienstraße ist ein Erlebnispark. Ein Platz, an dem es alles gibt: Kinos, Knöpfe, Kebabs, Künstlerbedarf, Klamotten und Korbwaren, Bücher, Platten, Friseure und Fahrradläden und natürlich eine Kneipe an der anderen. Hierher sollte man zuerst alle Weitgereisten führen, die nie zuvor in Berlin gewesen sind. Auch wenn das nicht nötig zu sein scheint: Diese Straße aller Straßen müßte mitsamt ihren Bewohnern à la Truman-Show zu einem kleinen Seahaven umgebaut werden, in dem nur die Touristen nichts von den Kameras wüßten, die sie begleiten. Denn nirgends ließe sich das wohlig warme Westberlin der 80er Jahre authentischer simulieren.

Daß die Zeit hier aus den Fugen ist, darüber werden sich auch die Veranstalter der langen Buchnacht in der Oranienstraße im klaren gewesen sein. Ebenso, daß sie mitten im schönsten Kreuzberg mit bis in die Nacht geöffneten Buchläden keine jungen Wilden, sondern bestenfalls an- und in die Jahre gekommene Hausbesetzer hervorlocken würden. Und darum, weil hier keiner der Illusion erlag, man könnte an internationale Lyriknächte, spektakuläre Lesemarathons, Clubs United oder gar loveparadeähnliche Ausschweifungen anknüpfen, wurde der Abend ein stiller Knüller.

Da las zum Beispiel am Anfang des Abends Bert Papenfuß aus seiner neuesten „Hetze“-Lyrik von Urschmerz, Vormärz und Vorwärts. Seine Forderung: „Wir brauchen keinen Klugschiß, sondern Zugriff eigenen Zuschnitts“ wurde von den anwesenden Beflissenen mit einem sanften Lächeln aufgenommen. Papenfuß' angestrebte Rolle des Enfant terrible des Kulturbetriebs kam hier besser an als in seiner fernen Heimat Prenzlauer Berg. Viele im Publikum sahen so aus, als seien sie vom Stockwerk drüber mal schnell auf die Straße gestolpert und nur zufällig und weil's nichts kostete in die Lesung in der muffigen Kiezbibliothek geraten. Eine Dame mit Dauerwelle und dünner Bluse kicherte stets kokett, wenn wieder eine wüste Papenfußsche Parole fiel. Die meisten saßen andächtig herum, verzogen keine Miene und lauschten geduldig sogar noch Gerhard Wolf, der hinterher wie ein Märchenonkel aus der Geschichte seines Verlags Janus Press plauderte. Anschließend konnte man bedächtig und pflichtschuldig in den Buchladen Kisch & Co überlaufen, wo eine sehr lustige, vom Akkordeon begleitete szenische Lesung von Prosa über die Fallsucht von Daniil Charms stattfand. Nur selten kam diese ruhelose Stimmung auf, die man sonst von solchen Veranstaltungen kennt: Hektisch in den Laden rein und gleich wieder raus rannte eigentlich niemand. Auch hing keiner mehr mit der Nase im Programmheft als an den Lippen der Dichter. Etwas aufgekratzter ging es eigentlich nur im Comicladen Modern Graphics zu. Hier hatte sich ein Haufen bekannter Berliner Zeichner eingefunden und malte begeistert an einem in drei Teile zerschnittenen Buch mit Gestalten, das die Zuschauer dann durch Blättern neu kombinieren konnte. Füße von Ol, Bauch von Fil und Kopf von Reinhard Kleist oder Bauch von Andreas Michalke, Füße von Max Anderson und Kopf wieder von Ol – eine alte, Idee zu einem Kinderbuch, aber sehr philosophisch.

Eher bedächtig lustwandelte Kreuzbergs kulturinteressierte Szene von Buchladen zu Buchladen, von Kneipe zu Café, und man wünschte sich, daß es eigentlich immer so sein könnte: Kulturbetrieb und Künstler zum Anfassen für umsonst, Buchläden über Buchläden mit offenen Türen und überall konzentrierte Gesichter, die auch noch nach zwölf ins Gehörte oder Gelesene zu versinken schienen. Susanne Messmer

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