: Veteran des Frosts
Don DeLillo, Großschriftsteller der Postparanoia, las in Berlin aus seiner 1.000seitigen Vergangenheitsbewältigung – vor ehrfürchtigem Publikum ■ Von Norman Ohler
„Auf keinen Fall fotografieren! Das hat er sich verbeten. Der Mann ist sehr sensibel!“ Eine Dame von der veranstaltenden Buchhandlung Kiepert weist noch einmal auf die Schilder hin, die überall hängen und auf das Fotografierverbot aufmerksam machen, an diesem strategisch wichtigen Ort. „Daß er überhaupt gekommen ist, müssen wir ihm hoch anrechnen.“
Es herrscht ein unglaubliches Gedrängel. Alle wollen ihn sehen, hören, miterleben: den Schöpfer eines „Monumentes“, einer „Kathedrale der Prosa“, eines der „besten Bücher dieses Jahrhunderts“: „Unterwelt“.
Ein Epos des Kalten Krieges, das mit Sicherheit. Und der Dichter: Als er mit unglattem Gesicht, strähniger grauer Frisur, Jeans und Strickpulli auf die Bühne kommt, wirkt er wie ein Veteran jener frostigen vierzig Jahre, die am 3. Oktober 1951 mit der Zündung des ersten Atombombentests durch die Sowjets begannen und hier in dieser Stadt endeten, als am 9. November 1989 die Mauer fiel und der Tränenpalast, in dem die Lesung stattfindet, vom Symbol der Trennung zu einer Stätte der Kommunikation mutierte.
Ohne hallo zu sagen, beginnt DeLillo mit Vorlesen, unspektakulär. Beinahe bleibt dem Publikum der Atem stehen, so ehrfürchtig versucht es, still zu sitzen, um den Vorgang nicht zu stören. Auf eine faszinierende Weise wirkt DeLillo derart fragil und löwenhaft zugleich, daß eine Einmischung in solch eine hochkomplexe Persönlichkeit unangemessen scheint, höchstens auf eine deutliche Einladung des Autors hin erlaubt ist.
Doch die bleibt aus. „Herr DeLillo entscheidet ganz bewußt, mit wem er kommuniziert und mit wem nicht“, sagt später seine deutsche Lektorin unter vier Augen. „Das respektieren wir.“
Alle lieben diesen Roman. Hierin ist DeLillo ein großer postmoderner Künstler. Beinahe populistisch geht es in seinem Buch um Baseball, die Gefahr eines nuklearen Weltkrieges, Müll und das Recycling durch die Popkultur. Und vor allem geht es darum, daß all dies aufs engste miteinander verwoben ist – so wie alle Handlungen, Gedanken und Ausdünstungen eines jeden einzelnen Wesens auf diesem Planeten in engem Zusammenhang mit jedem anderen Teil stehen. Das Netz, Cyberspace: das dominierende Thema des Buches, wenn auch nur in Ansätzen explizit behandelt, sozusagen von der Unterwelt des Romans aus glühend.
DeLillo will, daß wir uns alle verstehen, daß wir keine Angst mehr voreinander haben müssen. Davon lebt seine Sehnsucht nach Vernetzung. Denn das natürliche Endprodukt der Vernetzung ist das Aussterben der Paranoia. Man kennt dann alles und braucht sich nicht mehr zu fürchten.
Dieses Kennenlernen erreichen wir durch die Sprache, glaubt der Autor. „Die Sprache ist die ultimative Erleuchtung“, sagt er. Das Werkzeug der Postparanoia. „Meine Arbeit handelt vom Leben in gefährlichen Zeiten. Die Welt ist ein gewalttätiger Ort. Zu einem gewissen Grad ist das in jedem hier in diesem Raum vorhanden – das Aggressionspotential.“ Veteranen des Kalten Krieges, die wir alle sind. „Während ich an ,White Noise‘ arbeitete, schwebte die ganze Zeit eine Wolke des Unbekannten über meiner Schulter“, erzählt er. „Das ist zum Glück jetzt nicht mehr so.“
Die ersten drei Fragen der an die Lesung anschließenden halbstündigen Diskussionsrunde sind einstudiert, kommen nicht aus dem Publikum, sondern vom Übersetzer. DeLillo schaut ihn nicht an, als der ihn anspricht, rattert dann einstudierte Antworten runter. Erzählt von „Männern in kleinen Räumen“. Von Lee Harvey Oswald, dem Kennedy-Mörder, der sein Vorgehen in einem einsamen Südstaatenzimmer geplant hat. Erzählt von sich selbst, wie er vor dreizehn Jahren in seiner Schreibstube sitzt und einen Roman über das JFK-Attentat schreibt, der in Deutschland unter dem Titel „Sieben Sekunden“ erschienen ist. „Es gibt Leute, die sind Sterbende, und es gibt Leute, die sind Killer“, sagt DeLillo.
„Wozu gehören Sie?“ kommt die Frage aus dem Publikum. „Ich bin ein Killer“, antwortet er wie aus der Pistole geschossen. „Ich schreibe zur Selbsterhaltung.“ DeLillo hat es geschafft, sich tausend Seiten an einem Stück selbst zu präservieren. „Unterwelt“ sieht gut aus, als Buch. Viele lesen nicht das Ganze, haben ein schlechtes Gewissen und bewundern den Autor deswegen nur um so mehr. „Bessere Produkte für ein besseres Leben“, heißt es im Text.
Aber es muß auch Kritik erlaubt sein an diesem „Eisberg der Belletristik“. Denn „Unterwelt“ ist über lange Strecken ein seltsam steriles Buch, das vielleicht deswegen all jene derart anspricht, die in der Sterilität des Kalten Krieges aufgewachsen sind, die Seelenverfassung jener 40- bis 70jährigen spiegelt, denen die Selbstentfaltung, der Selbstausdruck geklaut wurde von der Unerbittlichkeit eines internationalen Konflikts, der die Zartheit des individuellen Lebens zermalmte, der das Geheimnis, den Mythos, den Spieltrieb des Menschen nur noch im Baseball zuläßt.
Es sind jene zahllosen gescheiterten Protagonisten der großen, realen Story des Cold War, die jetzt zu diesem Buch greifen, der 1000seitigen Vergangenheitsbewältigung. DeLillo geht schonend mit ihnen um. Das allerdings unterscheidet ihn von Thomas Pynchon, mit dem er immer wieder verglichen wird. Vor der pynchonesken Radikalität, die den Wahnsinn immer wahnsinnig beschreibt, voller Inbrunst in die tiefsten Abgründe und Grüfte der Angst hinabsteigt, scheut DeLillo zurück. So spricht er die Masse an, erreicht aber nicht die kritische Masse. Die Kernspaltung, die er beschreibt, läßt er nicht im Kopf des Lesers passieren, sondern malt lediglich ein Bild davon, das man sich ungefährdet anschauen kann.
Die Zuschauer danken es mit warmem Applaus. „Es muß sehr aufregend sein, in Berlin zu leben“, sagt er zum Abschied. „Die Statik ist so stark, sie zerbritzelt Träume.“
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