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Vogelfrau flügellahm

■ Bleierne Reden, vollgestopfte Metaphorik: Slobodan Šnaiders balkanozentristische Geschichtskonstruktion „Windsbraut“ wurde im Schauspielhaus Bochum uraufgeführt. Bloß am Ende ein kurzer, schüchterner Windstoß

Der Anfang war schon bald zu Ende, und das lange Ende ergab sich aus dem kurzen Anfang. Mit Kriegen auf dem Balkan geht das Jahrhundert nun zu Ende, und seine Hoffnung war schon aufgebraucht, als der Erste Weltkrieg auf dem Balkan seinen Anfang nahm. Eine balkanozentrische Geschichtskonstruktion. Kunst und Leben, Liebe und Krieg, das unlogische Quadrat der Gegensätze unserer Existenz. Sie können nicht zusammen wahr sein und doch zusammen falsch. Wenn das Leben falsch ist, ist die Kunst noch längst nicht wahr. Krieg und Liebe schließen sich aus und befördern sich doch gegenseitig.

Eine tragische Daseinsanalyse. Geschichte, Existenz und Gegenwart, wenn man soviel auf ein Drama häuft, bricht nicht nur die Hauptfigur darunter zusammen. Slobodan Šnaiders „Windsbraut“ würde gern fliegen, doch ihr Ballast ist allzu schwer. Schwergewichtige Rhetorik, bleierne Dialoge, vollgestopfte Metaphorik halten sie am Boden. Der Kroate Šnaider hat im deutschsprachigen Theater den Ruf eines poetischen Chronisten balkanischer Greuel, der vor allem auf sein 1987 vom Mülheimer Theater an der Ruhr erstaufgeführtes Stück „Der kroatische Faust“ zurückgeht. Ein visionäres Stück über die Vergangenheit. Damals nutzte er die historische Figur des kroatischen Schauspielers Vjeco Afrić, um die Verhältnisse zwischen Deutschen, Kroaten und Serben zu durchleuchten. Mit den historischen Wurzeln der ethnischen Konflikte sahen wir zugleich ihre Zukunft. Diesmal wollte er die historische Figur der kroatischen Schauspielerin Gemma Boić benutzen, um Ende und Anfang des Jahrhunderts zu verbinden. Gemma Boić' irrlichterndes, stürmisches Leben, ihre Irrfahrt von der Jugend in Zagreb über Sanatoriumsaufenthalte in Bayern zu Erfolgen und Mißerfolgen am Burgtheater in Wien, ihre Anziehungskraft auf Männer und ihre Abstoßungsenergie gegen jegliche männliche Vereinnahmung, ihr zäher Liebeskampf mit einem Verehrer, dem Ballistiker Felix Stiassny, ihre melancholische Depression bis zum Freitod vier Monate nach Beginn des Ersten Weltkriegs – das alles hat Šnaider in seine szenische Biographie gepackt, teils historisch getreu, teils hinzuerfunden. Und glaubt damit eine Metapher für unser Jahrhundert gefunden zu haben. Werner Schroeter, der Opernfanatiker mit Filmerfahrung unter den deutschen Theaterregisseuren, könnte der richtige Mann für solch hochfliegendes Melodrama sein. Doch diesmal ist er – vielleicht aus unangemessener Ehrfurcht vor dem ungespielten Text – nur uraufführungsschüchtern. Gradlinig und bilderarm wird Gemma Boić' Leben nacherzählt. Zwei nackte Männerhintern, das sind schon die größten Kühnheiten. Statt „beinhart scharfen Karikaturen“, die Schroeter in einem Interview des Programmheftes ankündigte, nur weiche Scherze. Schnee und immer nur Schnee, auch bei der Liebe in Venedig, als Bild der Kälte in Gemma und in der Welt um sie herum. Fünf identische Statuen aus Plastik, eine Mischung aus apollinischer Lichtgestalt und anatomischem Schaumodell, bevölkern den abstrakten Bühnenraum Alberte Barsacqs.

Ein inszenatorischer Eingriff rechtfertigt sich erst spät: die Doppelung der Titelfigur. Die junge, schöne Maren Eggert spielt Gemma Boić, aber von Anbeginn an hat sie immer ein kleines Mädchen im Matrosenanzug bei sich. Judith Rosmair spielt Gemma Boić' „Spiegelkind“. Am Anfang singt sie, dann steht sie meist nur stumm herum. Doch bei Gemmas Abschiedsmonolog darf sie alles, tanzen, singen, sprechen. Sie doppelt das Deutsch der Erwachsenen Gemma mit dem Kroatisch ihrer Kindheit. Und endlich sieht man beides: die hoheitsvolle Kälte, die selbstquälerische Todessucht bei Maren Eggert und das ungedämpfte Feuer, die rasende Lebensfreude bei Judith Rosmair. Endlich die brennende Kälte, das fiebrige Frösteln, das die Figur braucht. In den vorletzten fünf Minuten, erst in der Spaltung, erst im Sterben, wird diese Vogelfrau flügge. Schroeter braucht zwei Schauspielerinnen dafür. Ein kurzer Windstoß. Zu wenig für dreieinhalb Stunden „Windsbraut“. Dann wieder geschichtsphilosophische Flaute: Epilog mit guten Wünschen beim Ausklingen des Jahrtausends.

Šnaider hat das Stück der frühverstorbenen kroatischen Schauspielerin Gordana Kosanović gewidmet, die im Bochum benachbarten Mülheim beim Theater an der Ruhr spielte. Dort möchte man das Stück sehen, um zu erkennen, wie gut es ist. Oder in Wien am Burgtheater, Gemma Boić' gehaßter Wirkungsstätte, am besten im alten brandauernden Stil, um zu sehen, wie schlecht es ist. Gerhard Preußer

Slobodan Šnaider: „Windsbraut“. (Uraufführung) Schauspielhaus Bochum. Regie: Werner Schroeter. Bühne und Kostüme: Alberte Barsacq. Mit: Maren Eggert, Judith Rosmair, Wolfram Koch. Weitere Vorstellungen: 21. und 29. Nov., 6. und 19. Dez., 2. Jan.

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