: Seventies-Disco im Inneren des Latex-Eis
Der Berliner Künstler Hans Hemmert stellt im Wallfahrtsort Santiago di Compostela seine Faszination für Gummi aus ■ Von Harald Fricke
Jedes Jahr feiert der Katholizismus neue Rekorde. Im spanischen Wallfahrtsort Santiago di Compostela etwa waren 1993 über sieben Millionen Pilger zu Besuch; Berlin hat im Schnitt weniger als die Hälfte an Touristen, Love-Parade- Raver inklusive. Tatsächlich kommen in der galicischen Stadt, die unter einer Nebelglocke hinter einer Bergkette am Atlantik liegt, auf 100.000 Einwohner 150 Kirchen. Seit 1993 hat Santiago außerdem einen elegant minimalistischen Museumsneubau, weil die Provinz sich auch kulturell wenigstens ein bißchen gegenüber Madrid emanzipieren möchte. Das Programm ist entsprechend ambitioniert: Auf dem Dach hat Dan Graham einen pyramidenförmigen Pavillon aufgebaut, es gab eine Ausstellung mit Arbeiten des italienischen Bildhauers Giovanni Anselmo, ein Erinnerungsprojekt von Christian Boltanski und eine Retrospektive der südamerikanischen Performance-Künstlerin Ana Mendieta.
Daß nach dem Rückblick auf die Avantgarde der letzten 30 Jahre nun der 1960 geborene Berliner Hans Hemmert eingeladen wurde, zeigt, wie schnell der sonst eher randständig gelegene Ort sich Richtung Zentrum orientiert. Als Kuratorin des Museums interessiert sich Anna Guidi Cestelli nur wenig für lokale Folklore, statt dessen peilt sie die Vernetzung im weiten Feld des Kunstbetriebs an – demnächst wird auch der Berliner Fotograf Frank Thiel in Santiago ausstellen. Bei Hemmert kommt noch ein besonderes Faible für räumliche Probleme hinzu, die in dem verwinkelten Gebäude des portugiesischen Architekten Álvaro Siza allerdings gewaltig sind. Es gibt keinen Teil des Museums, der nicht von abgesenkten Deckenelementen, hervorstechenden Pfeilern oder schräg zusammenlaufenden Wänden verschont geblieben ist. Siza baut White- Cube-Labyrinthe, in denen das Publikum auf der Suche nach Kunst recht ratlos umherirrt. Auf den ersten Blick sehen seine Eingriffe selbst wie Skulpturen aus.
Schon in seiner Installation für das Foyer kontert Hemmert dieses Konzept mit feiner Ironie. In eine Nische, die neben der auf vier Meter heruntergezogenen Decke bald 15 Meter in die Höhe schießt, hat er einen knallgelb leuchtenden Latexballon gezwängt. Das Gummimonstrum mißt wiederum an die acht Meter und quillt wie gärender Teig in die Haupthalle. Damit dieser Kommentar auf die schiefen Proportionen des Stararchitekten selbst nicht bloß zum Gag mit den absurden Größenordnungen gerät, ist der Ballon jedoch nicht voll aufgepumpt. Der Luftdruck im Innern schmiegt das Objekt dem Raum an, ohne über ihn zu triumphieren. Diese dialogische Struktur gehört zum bildhauerischen Denken: Schließlich grenzen sich schon seit der Minimal-Art Skulpturen nicht mehr von ihrem Umraum ab, sondern versuchen vielmehr, mit der Situation vor Ort zu kommunizieren.
Was im Foyer wie eine Provokation mit viel Understatement daherkommt, entpuppt sich im zweiten Teil der Ausstellung als übergeordnetes Gestaltungsprinzip. So sieht man in einem dreiminütigen Video einen etwa mannshohen Gummiball, der zu Seventies- Disco energisch herumtanzt. Manchmal schlägt der Ballon dermaßen stark aus, daß im Inneren Hände, Arme und schließlich auch ein schemenhaftes Gesicht zu erkennen sind. Es ist Hemmert, der sich in die gelbe Hülle hat einschließen lassen. Plötzlich wird das plumpe Ei zu einem differenzierten Körper, der zwischen menschlicher und abstrakter Form vermittelt. Das Objekt entwickelt in der Performance ein Eigenleben, das der Künstler kaum steuern kann. Ab einer gewissen Schwungstärke scheint Hemmert selbst nur auf die Dynamik reagieren zu können, was die Vereinigung der beiden Körper noch betont.
Überhaupt sind Hüllen und Luftballons bei Hemmert seit Anfang der neunziger Jahre das zentrale Thema. Damals hatte er schwarze Luftsäcke in offenen Fenstern drapiert, so daß sich die Folien mit der kühleren Außenluft vollsogen und praktisch von selbst zu atmen schienen. 1996 entstand dann mit „Unterwegs“ die erste Arbeit, bei der Hemmert ganze Interieurs mit Latex auskleidete. Von diesen Experimenten gibt es in einem kathedralenhaft emporgewachsenen Ausstellungsraum drei zarte Fotoleuchtkästen, auf denen man den Künstler im Auto, zu Hause oder in seinem Atelier sieht. Die Szenen sind merkwürdig entrückt, eingenebelt von dem gelb abstrahlenden Latex, das Hemmert trotz seines tiefrot leuchtenden Hemds eher gespenstisch wirken läßt. Die Hülle verschluckt den Rest des Raums.
Die Fotos aus dieser Zeit dokumentieren vor allem eine Faszination am Innen- als Zwischenraum, der sich wie ein Schleier über die Realität gelegt hat. Erst in den letzten Arbeiten scheint Hemmert komplett mit dem Objekt zu verschmelzen. Gleich ein ganzer Museumssaal ist in Santiago mit einer Bildstrecke gefüllt, auf der Hemmert alle möglichen Dinge des täglichen Lebens verrichtet – immer im Inneren des Latex-Eis. Man sieht seine Alter-ego-Hülle mit Einkaufstaschen beladen, als Tourist mit der Kamera oder bei überaus liebevollen Umarmungen. Dabei schlägt die Darstellung um, und der skurrile Ballon wird als Akteur zur Ikone.
Plötzlich wird auch offensichtlich, wie weitreichend bei Hemmert der Umgang mit dem Material gefaßt ist. Mal ist das Gummi als Fetisch in erotischen Anspielungen eingesetzt, dann wieder sieht der Gegenstand – zumal auf eine Vespa gesetzt – wie das Comicvögelchen Tweety aus. Diese Art der Überlagerung von Intimität und zeichenhafter Distanz macht den Reiz aus. Die Verschiebung des alltäglichen Prozedere am obskuren Objekt mündet am Ende in extreme visuelle Abstraktion. Doch gerade durch die Reduktion auf einfache Handlungen und minimalistische Formen werden beim Betrachter Assoziationen freigesetzt, die quasi die eigenen Bedürfnisse in diese dünne gelbe Hülle hineinprojizieren. An die Geschichte von Santiago di Compostela erinnert ein Foto, das den gelben Körper mit einer Heiligenstatue unter dem Arm zeigt. Vielleicht werden ihm die Pilger diese Erscheinung danken.
Bis 13.12., Centro Galega de Arte Contemporánea, Santiago di Compostela. Katalog: ca. 25 Mark.
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