: Spuren der Verschwörung
Nach dem Großstadt-Epos die National-Saga: Orhan Pamuk hat mit „Das neue Leben“ einen türkischen Road-Roman mit Rückkopplungseffekt geschrieben ■ Von Fritz von Klinggräff
Längst ist Orhan Pamuk, der 45jährige Großintellektuelle aus Istanbul, in den europäischen Teil seiner Heimatstadt gezogen. Wie es sich für die westlich orientierte Intelligenz der Stadt gehört, wohnt er in Cihangir an den Hängen zum Bosporus und unweit vom feinen Nishantashi, in dem sein Istanbul-Roman spielt – sein „Schwarzes Buch“, das Pamuk den Ruf des ersten Chronisten einer neuen, urbanen Türkei einbrachte. Doch als der Roman 1994 in Deutschland erschien und Pamuk hier zum metropolitanen Postmodernen der türkischen Literatur avancierte, hatte dieser zu Hause schon seinen nächsten Roman fertig: „Yeni Hayat“ – „Das neue Leben“: die Geschichte des traurigen jungen Mannes Osman aus Erenköy, einem kleinbürgerlichen Vorort am asiatischen Ufer von Istanbul, in dem auch Orhan Pamuk aufwuchs.
Nach dem Großstadt-Epos nun also die National-Saga, der Roman einer türkischen Suche quer durch die Steppen und Berge, die ihren Helden bis hinter die Einflußzone der PKK transportiert. Nicht auf dem Rücken der Pferde natürlich: „Ich stieg in Omnibusse ein, stieg aus Omnibussen aus, betrat die Busbahnhöfe, ging über Märkte, suchte Gemeindevorsteher auf, wanderte durch Straßen, über die Plätze der Viertel mit Brunnen, Bäumen, Katzen, Kaffeehäusern. Eine Zeitlang meinte ich in jeder Straße, über deren Gehsteig ich lief, in jedem Kaffeehaus, in dem ich einkehrte und Tee trank, auf die Spuren einer steten Verschwörung zu stoßen, die zu den Kreuzfahrern, den Byzantinern, den Osmanen führten.“ Keine Frage: Nicht Yașar Kemal, der Dichter des alten Anatolien, sondern Pamuk wird sich in zehn Jahren oder zwanzig den ersten türkischen Literaturnobelpreis einhandeln. Allein er könnte zur Zeit wohl mit Romanschreiberei die Türkei von ihrem Ruf als kurdisch-anatolischer Hinterwald Mehmets des Falken befreien.
Der Roman Osmans beginnt in seinen Studentenjahren und mit einem der anmaßendsten Sätze der Weltliteratur: „Eines Tages las ich ein Buch und mein ganzes Leben veränderte sich.“ Wie ernst das gemeint ist, erweist sich später, handelt es sich bei Osmans Lektüre doch um keine andere als „Das neue Leben“. Und doch hat sich Pamuk gehütet, diese literarische Rückkopplung auch nur annähernd so unmittelbar zu konstruieren wie jene zwischen den Omnibussen und der Werbung für ihre Reiseunternehmen auf den Bildschirmen im Businneren. Nach seiner Initiation ins Abenteuer einer identifikatorischen Lektüre schiebt sich zwischen Leser und Buch erst einmal ganz romantisch die Liebe: Osmans leidenschaftliche Lektüre des neuen Lebens ist ganz allein Canan geschuldet, seiner Kommilitonin und Vorleserin.
Nun weiß jeder Leser, daß solch eine literarische Gefühlsverwirrung recht lange nachwirken kann – insbesondere dann, wenn sie keine Erfüllung findet. Und so wird es denn nach Osmans erster Türkei-Reise auf den Spuren seiner Liebe auch vierzehn lange Jahre dauern, bis er sich als Familienvater nochmals aufmacht – nun endlich wirklich auf der Suche nach dem neuen Leben in einem Land, dessen Schicksal die Peripherie zu sein scheint und das „mit schlauer Taktik und kolonialistischem Scharfsinn als Mittlerer Osten bezeichnet wird“.
Zum zweiten Mal taucht der Roman damit in den irren Realismus einer Nation ein, deren Infrastruktur aus einem paranoiden System von globalen Verschwörungen und lokalen Gegenverschwörungen besteht. Und aus unzähligen privaten Buslinien, die jährlich mehr Todesopfer fordern als zehn Jahre türkisch-kurdischer Krieg zusammen. Natürlich stirbt Osman zuletzt an dieser türkischen Krankheit (die in einem bald fünfzigjährigen Marshallplan gründet, der der Türkei nach dem zweiten Weltkrieg viel Geld brachte – und die Auflage, amerikanische Busse zu kaufen statt Bahnlinien zu bauen). Der Bus also, der Osman zurück nach Istanbul tragen soll, rast in einen entgegenkommenden Laster, und in einer nachgerade hölderlinschen Doppelzäsur bleibt offen (zumindest in der Übersetzung der großen Pamuk-Übersetzerin Ingrid Iren, die übrigens auch in Erenköy wohnt), ob dem kummervollen Helden „das neue Leben“ nun sehr romantisch im Tode blüht oder ganz einfach verwehrt bleibt: „Ich begriff, dies war das Ende meines Lebens. Aber ich wollte doch nach Hause zurückkehren, ein neues Leben beginnen, sterben – das wollte ich auf keinen Fall!“
Orhan Pamuk: „Das neue Leben“. Roman. Aus dem Türkischen von Ingrid Iren, Hanser Verlag, München 1998, 352 Seiten, 45 DM
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