piwik no script img

Preis für politisches Denken

■ Hannah-Arendt-Preis an Antje Vollmer und Claude Lefort / Was soll Politik sein? Was Demokratie? Zwei Vorträge

Reichlich viel politische Prominenz saß gestern im Bremer Institut Francais und hörte geduldig zwei hochabstrakte Vorträge von Antje Vollmer, der studierten Theologin auf dem Stuhl des Bundestags-Vizepräsidiums, und dem französischen Soziologen und Philosophen Claude Lefort. Die beiden sind die diesjährigen Preisträger der Hannah-Arendt-Stiftung für Politisches Denken. Vollmers Thema war „Politik und Macht am Ende des 20. Jahrhunderts", Lefort sprach (auf französisch) zu der These: „Die demokratische Gesellschaft ist keine Gesellschaft von Individuen“.

Vollmers These: Politik darf sich nicht auf die Widerspiegelung des bestehenden demokratischen Konsenses reduzieren, Politik darf sich auch nicht (nur) zum Ziel setzen, „möglichst vielen Menschen möglichst viele Bedürfnisse zu befriedigen“. Damit steht Politik in direkter Spannung zum demokratischen Prinzip, aber nicht im Sinne der totalitären Versuchung, daß Politik besser weiß als das Volk, was für es richtig ist.

Wer gehofft hat, Vollmer würde erklären, was für sie „Politik“ ist, der wurde enttäuscht. Die zwei Beispiele aus ihrer eigenen politischen Biografie, die ihr zur Erläuterung dienen sollten, berühren bezeichnenderweise nur Randfragen der Politik: Sie hatte in den 80er Jahren eine Initiative zum Dialog mit inhaftierten RAF-Terroristen ergriffen (erfolglos, wie sie selbst sagt), und sie hatte in einer gespannten Situation der deutsch-tschechischen Beziehungen demonstrativ einen Vertriebenen-Tag der Sudetendeutschen besucht, ohne dort allerdings etwas zu sagen. Reiz soll wäre es gewesen, zum Beispiel den Schröderschen Populismus mit dem Politik-Verständnis der Hannah Arendt zu konfrontieren, aber dieser Versuchung widerstand die Grünen-Politikerin.

Claude Lefort, der französische Philosoph, war lange Jahre überzeugter Trotzkist und kennt die Versuchungen totalitären Denkens also auch aus seiner eigenen Biografie. Er kritisierte scharf antidemokratische Elemente in der Kulturkritik von Marcuse oder auch Sartres „simplifizierenden“ Marx-ismus. Das bedeutet aber nicht, daß Lefort am Ende des 20. Jahrhunderts den Triumph der liberalen Demokratie sehen würde. „Wir sind immer noch dabei zu entziffern, was das Kennzeichen einer Befreiung und was das Kennzeichen neuer Knechtschaft trägt. Ich habe keine Antwort darauf“, gestand er.

In der Diskussion wurde die aktuelle Frage aufgeworfen, wie Politik mit Pinochet und mit Öcalan umgehen sollte. Offenbar wird diese Frage den Mehrheiten in den betreffenden Gesellschaften nicht überlassen – gibt es also doch eine „Weltgerechtigkeit“? Oder geht es, im Sinne von Hannah Arendt, weniger um Strafe für Vergangenes als vielmehr um das Gegenwärtige: Welche Bewältigung von Problemen in der Türkei und in Chile kann ein Prozeß im Ausland leisten? In wessen Namen, mit welcher Legitimation wird das Demokratieprinzip außer Kraft gesetzt und gesagt: Pinochet gehört vor Gericht, Öcalan nicht aufs Schafott? Vielleicht hätte Hannah Arendt selbst Spannendes zur Beantwortung dieser Fragen beitragen können. K.W.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen