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HIV tilgt die weißen Flecken

Das Aidsvirus hat es geschafft. Die letzten bislang weißen Flecken auf der Weltkarte sind erobert. Osteuropa, bis Mitte der neunziger Jahre von der Epidemie weitgehend verschont, erlebt eine „astronomische Zunahme der Infektionen“, warnen die Vereinten Nationen. Motor der Ansteckungswelle sind die Drogenszenen der Metropolen und die Zunahme der Syphiliserkrankungen. Die höchsten Infektionsraten meldet die Ukraine  ■ Von Manfred Kriener

Bis vor zehn Jahren existierte Aids in Osteuropa nur in Einzelfällen. Die weiße Weste der alten Warschauer- Pakt-Staaten und der DDR war aber nicht, wie der Spiegel in seiner tiefen Zuneigung für einen repressiven Aidskurs schrieb, das Ergebnis einer konsequenten Seuchenpolitik, sondern schlicht Ausdruck der Isolation. Der Eiserne Vorhang war über viele Jahrzehnte das wirksamste Kondom der Welt. Auch nach der Epochenwende blieben die Infektionszahlen zunächst marginal. Bis 1994 hatten sich unter den 450 Millionen Menschen in allen Ländern Osteuropas zusammen nur 30.000 mit HIV angesteckt, das waren fünfzehnmal weniger als in Westeuropa und viehrhundertmal weniger als im südlichen Afrika. Doch jetzt hat sich die Infektionsrate innerhalb von drei Jahren versechsfacht. Zum Jahresende 1997 zählte allein die Ukraine als trauriger Spitzenreiter 110.000 Infizierte.

Aber auch Weißrußland, Moldawien und Rußland verzeichnen einen sprunghaften Anstieg der Infektionen. In der Ukraine galten bis zum Jahre 1994 nach offiziellen Angaben 398 Menschen als HIV- infiziert. Der große Einbruch kam ein Jahr später, 1995.

In diesem Jahr registrierten die Epidemiologen eine Verdreißigfachung auf 1.500 Infizierte, 1996 explodierte die Ausbreitung auf 12.228, und im vergangenen Jahr kamen nochmals 15.000 Fälle dazu. Dies sind aber nur die offiziell positiv getesteten Personen – Prostituierte werden in der Ukraine zwangsgetestet.

Rechnet man die Dunkelziffer dazu, dann waren, so die Schätzungen der UN, bis zum Ende des Jahres 1997 etwa 110.000 Menschen in der Ukraine infiziert. Zentrum der Ansteckungswelle sind die Städte Odessa und Nikolajew mit etwa der Hälfte aller Fälle. In Rußland stieg die Zahl der HIV-Infizierten im selben Zeitraum von 158 HIV-Positiven im Jahr 1994 auf heute 40.000.

Das Virus grassiert vor allem unter den Junkies in den Metropolen. Schätzungen für Rußland gehen davon aus, daß vier von fünf Infizierten aus der Drogenszene kommen. In Weißrußland sind es nach Angaben der UN sogar 87 Prozent. Sterile Spritzbestecke oder Spritzenautomaten sind in Osteuropa nicht zu haben.

Aids wird aber auf Dauer nicht das Problem allein der Junkies bleiben. Prostituierte und Sexarbeiter sind das Zwischenglied zur Allgemeinbevölkerung. In Kaliningrad waren in einer Stichprobe von 103 Sexarbeitern etwa ein Drittel Junkies. Und vier von fünf Frauen, die in der Stadt wegen HIV-typischer Krankheitssymptome behandelt werden, arbeiten im Sexgewerbe.

Tests an Schwangeren und Blutspendern belegen die Vermutung, „daß HIV langsam auch in der Allgemeinbevölkerung heimisch wird“, so der im Juni zur Welt-Aids-Konferenz in Genf vorgelegte „UN-Report zur globalen HIV- und Aidsepidemie“. Stichproben an Schwangeren in Odessa zeigen inzwischen eine ähnliche Infektionsrate wie in Rom oder Berlin.

Der zweite wichtige Kofaktor für die Ausbreitung von HIV und Aids in Osteuropa ist die Syphilis. Eine hohe Rate von Geschlechtskrankheiten, dies hat die Epidemie in vielen Ländern eindrücklich bewiesen, begünstigt die Ansteckung mit dem Aidsvirus. Über feine Risse und Läsionen, kleine Verletzungen der Genitalien, kann das Virus leichter übertragen werden.

Und die Syphiliszahlen sind alarmierend. Die Ukraine meldet allein für das Jahr 1995 mehr als 60.000 Neuerkrankungen. Die Rate stieg von weniger als 10 Fällen je 100.000 Einwohner im Jahre 1990 auf 220 Syphilisfälle. Insgesamt verzeichnen die Staaten des früheren Sowjetreiches einen Anstieg der Infektionsrate von fünf Syphilisfällen auf heute 170. Die starke Zunahme der Prostitution und die schlechte Gesundheitsversorgung begünstigen diese Koepidemie.

Über die Ausbreitung von HIV unter den Homosexuellen Osteuropas ist wenig bekannt. Freiwilliges und anonymes Testen des HIV-Status gibt es nur selten. In der Ukraine stand Homosexualität noch bis 1991 unter Strafe. In Rußland werden HIV-Positive nach wie vor namentlich erfaßt und in einem Melderegister geführt. Da soziale Ausgrenzung die erste Konsequenz eines positiven Befunds ist, hat niemand ein Interesse, sich freiwillig testen zu lassen. Auch Schwangere werden aus Mangel an Geld und medizinischen Gerätschaften nicht regelmäßig getestet.

Die Ukraine hat zwar formal seit 1991 den freiwilligen und anonymen HIV-Test eingeführt. Doch die bis dahin übliche Praxis hat sich seitdem nicht geändert. Wie die Vereinten Nationen in ihrem epidemiologischen Länderbericht über die Ukraine ausdrücklich vermerken, werden die positiv gestesteten Personen nach wie vor mit vollem Namen und Adresse in einem zentralen Melderegister gespeichert.

Die Testbereitschaft ist entsprechend gering. Im Jahr 1996 erfolgten nur fünf Prozent aller Antikörpertests freiwillig und anonym. Eine Trendwende ist nicht in Sicht.

Kondome, die wichtigste Waffe zur Abwehr von HIV, sind in Osteuropa entweder nicht vorhanden oder unbezahlbar. Während zum Beispiel in Slowenien Kondome in Apotheken und Tankstellen verfügbar sind, gibt es sie in Kasachstan nur in einigen wenigen Apotheken der Hauptstadt Almati.

In Moskau haben die meisten Apotheken zwar ein kleines Kondomangebot, ebenso wie Supermärkte, einige Hotels und Kioske. Aber der Preis einer Zwölferpackung entspricht einem Drittel des durchschnittlichen Monatsverdienstes. Das geringe Einkommen und die maroden öffentlichen Kassen lassen außerdem eine Behandlung von Infizierten und Kranken mit antiviralen Medikamenten illusorisch erscheinen. Hier unterscheiden sich die früheren Sowjetstaaten nicht von den Entwicklungsländern Afrikas und Asiens.

Die reichen Länder Europas werden die Epidemie im Osten auf Dauer nicht nur aus der gewohnten Zuschauerperspektive verfolgen können. Über den Sextourismus in den Grenzregionen ist ein reger Austausch vorhanden. Finnland meldet in den Grenzgebieten bereits eine auffällige Zunahme nicht nur der Syphiliserkrankungen, sondern auch der HIV-Infektionen. Die Vergnügungsviertel von St. Petersburg sind das preiswerte und bevorzugte Ziel finnischer Sextouristen.

Die Vereinten Nationen versuchen inzwischen mit Appellen und markigem Vokabular eine politische Reaktion auf die neuen Aidszahlen in Osteuropa zu provozieren. Peter Piot, Direktor von UN-Aids, legte in diesem Jahr eigens eine Konferenz zur „Aidskrise der Jugendlichen“ nach Moskau. Osteuropa, sagte Piot, sei im Begriff, das nächste Epizentrum der Epidemie zu werden. Noch hätten die betroffenen Länder alle Chancen, die Aidsausbreitung zu stoppen.

Doch eine entsprechende Aufklärung, eine große öffentliche Kampagne, findet nicht statt. In den Fragebögen der Vereinten Nationen, die das Engagement eines Landes in Sachen Aidsverhütung untersuchen, häufen sich in den Ländern Osteuropas die weißen Flächen, auf denen keine Angaben vermerkt sind. Egal, ob nach der Häufigkeit der Kondombenutzung, nach sexuellen Praktiken, nach Risikobewußtsein oder nach dem Zugang zu einer vernünftigen Gesundheitsversorgung gefragt wird, es gibt keine Antworten und keine Sozialforschung in Sachen Aids.

Die Verzögerung von etwa zehn Jahren, die zwischen der Ansteckung und dem Ausbruch der Krankheit liegen, hat die HIV-Infektion auch in der Ukraine und in Rußland zu einer lautlosen Epidemie gemacht.

Im Jahr 1997 meldete die Ukraine keinen einzigen Todesfall durch Aids. Das Gesicht dieser Krankheit ist also noch immer weitgehend unbekannt. Das wiegt die politischen Führer, die zudem noch ganz andere Sorgen haben, in falscher Sicherheit.

Manfred Kriener, 45, ist freier Journalist in Berlin. Bis 1990 arbeitete er als Ökoredakteur bei der taz. Seine Schwerpunkte sind Gesundheit und Ernährung

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