: Eine Grammatik aus rotem Samt
Von glücklichen Parasiten und schnellen Käsebrötchen: Alban Nicolai Herbst und Georg Klein reden über ihre Zukunftsromane „Thetis“ und „Libidissi“. Größenwahn gehört zur Methode, Sadismus kann auch zärtlich sein, und wer will, überblättert ein paar Seiten ■ Von Kolja Mensing
Es ist Donnerstag morgen, halb zehn, und im Frankfurter Café Laumer wird es gerade gemütlich. Bis Alban Nicolai Herbst hereinstürmt. Hut und Mantel landen im Vorübergehen an der Garderobe, Herbst wirft sich auf einen Stuhl und wischt sich mit einem offenbar eigens für diesen Zweck mitgebrachten Handtuch über den kahlrasierten Schädel: „Bin mit dem Fahrrad da.“ Ein schneller Begrüßungsdialog, dann wird die Bedienung herangewinkt: Frühstück. Es geht los.
Alban Nicolai Herbst, 43 Jahre alt und Schriftsteller, kann alles gleichzeitig: Hektik verbreiten. Kaffee trinken. Extravagante Anzüge tragen. Und seinen neunhundert Seiten langen Roman „Thetis. Anderswelt“ schnell mal zwischen zwei Bissen Käsebrötchen zusammenfassen: „Nach einer ökologischen Flutkatastrophe sind die Polkappen geschmolzen und Europa ist zum großen Teil überschwemmt. Mit Ausnahme eines kleinen Teils von Kerneuropa, zwischen Bordeaux und der Tschechischen Republik“, erklärt er kauend, „dieses Gebiet ist dreigeteilt, in Osten, Zentrum und Westen. Der Osten verelendend, das Zentrum ist Dienstleistung, Banken und Gewerbe, und im Westen leben die Reichen. Das ist das Grundszenario des Romans.“ Ganz einfach. Alban Nicolai Herbst beißt zufrieden ins Brötchen, so als hätte er gerade den Roman noch einmal geschrieben.
Im Schweinsgalopp durch die Geschichte
So einfach ist es natürlich nicht. „November 1993 – Juni 1998“, so steht es unten auf der letzten Seite: Romanklötze wie „Thetis. Anderswelt“ werden nicht zwischen zwei Bissen Käsebrötchen geschrieben, sondern brauchen knappe fünf Jahre Arbeit. Lesen geht ein bißchen schneller – wenn man es denn überhaupt ganz schafft. Die Versuchung aufzugeben ist ziemlich groß. Zum Beispiel nach dem zwanzigseitigen Schweinsgalopp durch die Menschheitsgeschichte: von den „ersten Hominiden“ über die „Zweite Marokkokrise“ bis zum „Dritten Weltkrieg“. Aber Herbst, der mit „Wolpertinger oder Das Blau“ vor einigen Jahren schon einmal so einen dicken Roman geschrieben hat, ist großzügig: „Man muß ja zum Beispiel nicht diese ganzen zwanzig Seiten lesen, man darf auch überblättern. Wenn jemand überblättert, hat er ja schon dadurch das Gefühl, daß viel Zeit vergeht.“
Manchmal ist „Thetis. Anderswelt“ einfach nur ein größenwahnsinniges, verrücktes Buch. Dann macht es Spaß. Die meiste Zeit aber ist es furchtbar anstrengend. Die Geschichte von Achilles Borkenbrod, der dem dunklen Thetismeer entstiegen ist und sich langsam in den Westen vorarbeitet, schraubt sich quälend langsam und auf allerhand Umwegen durch Zeit und Raum an den Wirtschafts- und Politkrimi um den Unternehmer Toni Ungefugger heran. Und all das wird von einem zunehmend verwirrten Erzähler und fiktiven Autor namens Hans Deters zusammengehalten, der im Berliner Café Silberstein den Zukunftsroman zusammenträumt.
Viele Dinge versteht man nicht. „Muß man auch nicht“, findet Herbst. Würde man aber gerne trotzdem. Am liebsten hätte man den Autor gleich während des Lesens neben sich gehabt. Man hätte ihn gefragt, warum bei Reihungen so oft die Kommata fehlen oder die Sätze so komisch gebaut sind: „Ein Terrorist wird Odysseus.“ Ob er an einer bestimmten Stelle eigentlich auf Bessons „Das fünfte Element“ oder Scorseses „Taxi Driver“ anspielt.
Oder man hätte ihn gebeten zu erklären, warum die Erzählzeit, wie es an einer Stelle heißt, „nach hinten gebeugt war, eine Brücke, man spaziert über den Bauch des Romans über den Fluß der Handlung zurück und pflanzt vorne ein, was hinten erst gepflückt war.“ Und sicherlich hätte man ihn zwischendurch auch einmal angeschrien: „Halten Sie sich eigentlich für James Joyce mit Ihren Wortkreationen und ihrem Homer- Fimmel?“ Man hätte das Buch wütend zugeklappt und sich vom Autor beruhigen lassen: „Man darf auch überblättern.“ Dann hätte man Herbst ein Käsebrötchen angeboten. Alles wäre in Ordnung gewesen – und „Thetis. Anderswelt“ ein gutes Buch. So ein Hausbesuch würde dem Schriftsteller wahrscheinlich wirklich Spaß machen. Herbst ist nämlich ganz schön eitel: Er redet gerne über sein Buch, und man kann ihn auch sonst alles fragen, zum Beispiel über seine Zeit als Broker an der Börse von Chicago. Ganz im Gegensatz zu Georg Klein, der 45 Jahre alt ist und gerade seinen Debütroman „Libidissi“ veröffentlicht hat.
Die Stadt als Spiegel des mentalen Systems
Wenn man Georg Klein fragt, was er bisher so gemacht hat, guckt er einen freundlich an und sagt: „Vermutlich das gleiche, was Sie bisher gemacht haben. Ich habe in der Bundesrepublik gelebt und hier mein Geld verdient.“ Was wohl heißen soll: Wir können uns gerne ein bißchen über mein Buch unterhalten, aber nicht über mich. Klein kann man natürlich nicht in einem Café treffen, um ihn zu interviewen oder ihm gar beim Frühstück zuzuschauen. Hausbesuche ausgeschlossen. Also redet man über sein Buch. Auch „Libidissi“ ist ein Zukunftsroman, auch ein Bericht aus einer Anderswelt. Der Spion Spaik ist vor Jahren von Deutschland aus in eine orientalische Stadt geschickt worden, nach Libidissi. Doch Spaik ist unzuverlässig geworden. Seine Berichte werden immer seltener und merkwürdiger, und nach dem letzten Umzug hat er seine Adresse – eine üble Absteige – nicht mehr an die Zentrale weitergeleitet. Also werden zwei Agenten auf ihn angesetzt, die ihn ausschalten sollen. Zwischen den bröckelnden Mauern der Stadt beginnt ein Katz-und-Maus-Spiel.
„Libidissi“ ist kein klassischer Spionageroman, sondern ein Kunstroman, der von Sprache erzählt, von Städten und vom Denken. Kapitel um Kapitel wechselt die Perspektive: von Spaik zu seinen Killern und wieder zurück. Spaik berichtet in kühlen Sätzen davon, wie er immer mehr mit Libidissi eins wird und eins wird mit dem Organismus der Stadt: Ein müder, aber glücklicher Parasit, ein Ich-Erzähler ohne Ich. „Die Vorstellungen von unserem mentalen System haben sich verändert“, erklärt Georg Klein, „Dadurch, daß wir nicht mehr so ich- zentriert denken, wird es auch wieder interessant, die Stadt als Spiegel dieses Systems zu benutzen.“ Das klingt sehr modern. Sozusagen postmodern. Viel moderner und postmoderner als Georg Klein in Wirklichkeit sein möchte. Er spricht gerne in gewählten Sätzen vom Verfall der deutschen Sprache und davon, daß es für die „schlüpfrige Nähe und Emotionalität“ der Menschen im Informationszeitalter eigentlich keine Begriffe gibt. Was wohl heißen soll: „In meinem Buch allerdings schon.“
Neben den Spaik-Kapiteln gibt es die Kapitel, die aus der Perspektive seiner Gegner erzählt sind – der beiden Agenten, die den an die Stadt verlorenen Spion auslöschen sollen wie einen wildwuchernden Computervirus. Und hier passiert etwas Wunderbares, das allerdings wenig mit Begriffen und Informationszeitalter zu tun hat, sondern mit einem ganz feinen Gespür für Sprache. Der eine Killer wendet sich in diesen Abschnitten in einem zärtlichen Du an seinen Kollegen, bewundert die Schönheit seines Körperbaus und schildert die tödliche Mission der beiden – im Stil einen Briefromans – wie eine Erinnerung an einen romantischen Urlaubsabend.
Langsam die Knöchel knacken lassen
Auch wenn es gerade um eine Folterszene geht: „Wir nahmen ihn bei den langgliedrigen Händen“, heißt es da über einen Freund Spaiks, „wir ließen seine Fingerknöchel knacken und fragten ihn nach den in der Stadt lebenden Ausländern. Lang leugnete er die Bekanntschaft von Spaik, aber als du in geschickter Drehung den kleinen Finger seiner Rechten aus dem Gelenk springen ließest, fiel ihm ein, daß ein Deutscher dieses Namens zu den treuesten Gästen seines Dampfbades gehöre.“ Die altmodischen Imperfekte und Konjunktive dämpfen die Schmerzensschreie des Opfers: eine Grammatik aus rotem Samt. So böse und zugleich so schön war Sadismus lange nicht mehr. „Libidissi“ erzählt von einer zarten Gewalt, wie man sie bisher vielleicht nur aus den verlangsamten Filmen des neuen Hongkong-Kinos kennt.
Mit Georg Klein könnte man sich bestimmt sehr lange unterhalten, wenn es nicht so anstrengend wäre: „Mir ist jeder Satz wichtig“. Der Schriftsteller denkt im Gegensatz zu seinem Kollegen Herbst gar nicht daran, einfach mal etwas völlig Belangloses zu sagen oder nebenher in ein Käsebrötchen zu beißen. Äußerst anstrengend, wenn er sich zu einem prophetischen Satz aufschwingt: „Wir werden noch überrascht sein, wie wir in zwanzig Jahren von der Liebe reden“, zum Beispiel, oder: „Wenn Literatur ihr eigenes Territorium behaupten will, braucht sie einen emphatischen Zugang zur Sprache.“ Kann sein. Auf jeden Fall braucht sie gute Bücher, die Literatur. „Libidissi“ zum Beispiel.
Alban Nicolai Herbst: „Thetis. Anderswelt“. Fantastischer Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1998, 895 Seiten, 45DM
Georg Klein: „Libidissi“. Roman. Alexander Fest Verlag, Berlin 1998, 220 Seiten, 34DM
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