„Pinochet ist nicht mehr sicher“

■ Chiles KP-Vorsitzende Gladys Marin über die Chancen zur Demokratisierung nach der britischen Entscheidung über Pinochet

taz: Was hat die Entscheidung der britischen Lords, Pinochet keine Immunität zuzugestehen, für Chile zu bedeuten?

Gladys Marin: Zunächst ist Pinochet nicht mehr absolut sicher vor strafrechtlicher Verfolgung. Bis vor wenigen Wochen schien er völlig unangreifbar – selbst nach acht Jahren Demokratie in Chile. Das hat sich jetzt geändert, wir sind keine kleine Weltgegend mehr, wo die Dinge unbemerkt vor sich gehen können. Die Welt hat Pinochet schuldig gesprochen und gesagt: Er ist ein Mörder und genießt keine Immunität. Das ist ungeheuer wichtig.

Viele sähen Pinochet lieber vor einem chilenischen Gericht als vor einem ausländischen.

Sicher. Aber er hatte nun einmal in Chile nichts zu befürchten. Im hiesigen Rechtssystem gibt es eine Zivil- und eine Militärjustiz, und die Militärjustiz kann die Zuständigkeit für ein Verfahren erbitten. Die bekommt sie dann auch – und schlägt das Verfahren nieder.

Das heißt, gegen das Militär sind nicht einmal Verfahren zu machen, die nicht unter das Amnestiegesetz fallen?

Das Militär spielt eine unheimlich große Rolle, es ist von der unter Pinochet verabschiedeten Verfassung als Garant der Verfassung bestimmt. Dieser Paragraph muß dringend verschwinden.

Wie sind denn die Chancen, jetzt den bisherigen Deal zwischen Regierung und Militär, also „Demokratie gegen Straflosigkeit“, zu durchbrechen?

Die Rechte hat ganz klar an Kraft verloren. Sie gehen jetzt raus und fordern, daß Staatspräsident Eduardo Frei eine hohe Delegation nach London schickt, um Pinochet rauszuholen. Mit der Straflosigkeit hat die Regierung die Putschisten von damals praktisch legalisiert. Insofern ist die Entscheidung der Lords und die Möglichkeit, daß Pinochet in Spanien der Prozeß gemacht werden könnte, ein Schlag gegen Pinochet, der in Chile noch immer wie ein absolutistischer König gehaust hat. Es ist klar: Wenn wir wirklich zur Demokratie wollen, dann müssen sich die Streitkräfte von Pinochet lösen. Dazu braucht es einen politischen Wandel.

Wo soll der herkommen?

Ich bin mir leider auch nicht so sicher, daß er kommt. In jedem Fall wird es lange dauern. In Chile regiert immer noch die politische Kultur der Diktatur. Das ist auch schwer zu durchbrechen. Beispielsweise hat die Rechte sämtliche Medien des Landes in der Hand. Obwohl wir die Triebkraft in dem Prozeß gegen Pinochet sind, stand über uns kaum etwas in den Zeitungen, und wir kamen selten im Fernsehen.

Mal ehrlich: Können Sie sich wirklich vorstellen, daß Pinochet der Prozeß gemacht wird?

Ich glaube ja. Aber der Prozeß wird in mehreren Schritten ablaufen, derzeit in Großbritannien, später in Spanien. Ich denke, daß es ein politischer Prozeß wird.

Der sozialistische Außenminister José Miguel Insulza reist derzeit im Auftrag der chilenischen Regierung nach London und Spanien, um Pinochet zurückzuholen. Er war selbst nach dem Putsch im Exil. Wie sehen Sie diese Wandlung?

Für mich ist Politik eine moralische Haltung – da kann man nicht nach London fahren und sich für die Freilassung Pinochets einsetzen. Insulza muß sich fragen lassen, wofür er überhaupt noch steht, wofür er eigentlich noch Politik macht. Interview: Ingo Malcher, Santiago