Der Fall Öcalan: Chance zur Lösung der Kurdenfrage?

■ Historische Ängste vor einer Teilung des Landes bestimmen die türkische Ablehnung einer europäischen Initiative zur Kurdenfrage. Doch auch andere Stimmen gewinnen an Gewicht

Die Europäer wollen eine Neuauflage von Sèvres. Der Diktatfrieden von Sèvres, der 1920 das Ende des Osmanischen Reiches besiegelte und das ehemalige Imperium bis auf einen Restbestand aufteilte, wird in diesen Tagen in der Türkei immer wieder zitiert. Schon damals hätten die Europäer von der Türkei nichts übriglassen wollen.

Engländer, Franzosen, Griechen, Armenier und Kurden, alle sollten einen Teil aus dem Osmanischen Reich bekommen, nur die Türken nicht. Das habe Atatürk verhindert.

Sèvres weckt aus türkischer Sicht alte Ängste. Wieder einmal schicken die europäischen Mächte sich an, über die Köpfe der Türken hinweg über türkische Angelegenheiten bestimmen zu wollen, heißt es. Eine „europäische Lösung“ der Kurdenfrage wird als Unterstützung für einen kurdischen Staat und damit eine Teilung der Türkei interpretiert. Weil das so ist, können türkische Politiker auch sicher sein, daß sie die Unterstützung der Mehrheit haben, wenn sie diese Lösung kategorisch ablehnen. Das wird sich auch mit dem voraussichtlich neuen Ministerpräsidenten Bülent Ecevit nicht ändern.

Ecevit wurde am Mittwoch von Staatspräsident Demirel mit der Regierungsbildung beauftragt und soll demnächst einer ganz großen Koalition vorstehen, zu der außer seiner sozialdemokratischen DSP noch die beiden rechten bürgerlichen Parteien von Mesut Yilmaz (ANAP) und Tansu Çiller (DYP) gehören. Wenn auch diese Regierung zunächst nur als Übergang bis zu den Wahlen im April 1999 gedacht ist: Das Bündnis vereint alle Kräfte, die notwendig wären, um eine politische Lösung der Kurdenfrage voranzubringen.

Wahrscheinlich bedarf es tatsächlich wieder einmal der Amerikaner, um die Konfrontation zwischen der Türkei und Europa aufzubrechen. Um einerseits zu verhindern, daß Abdullah Öcalan zum Sprecher aller Kurden wird, und andererseits der Türkei klar zu machen, daß sie die Kurdenfrage nicht länger als internes Problem betrachten kann. Die Zeit, in der Nationalstaaten mit Minderheiten beliebig verfahren konnten, geht definitiv zu Ende.

Bislang fehlen für eine wirkliche Lösung der Kurdenfrage aber noch alle Voraussetzungen. Es gibt kein Konzept für die überwiegend kurdisch besiedelten Gebiete im Südosten der Türkei. Es gibt keine Debatte über konstitutionelle Veränderungen, die den Regionen mehr Mitbestimmung bringen könnten. Und es finden sich keine kurdischen Verhandlungspartner, die jenseits der PKK an einer Lösung mitarbeiten könnten. Jetzt rächt sich, daß alle türkischen Regierungen seit dem Tod von Präsident Turgut Özal kurdische Politiker statt an den Verhandlungstisch lieber in den Knast gebracht haben.

Trotzdem gibt es zaghafte Ansätze im Land, die mit einer entsprechenden Verstärkung von außen Gewicht bekommen könnten. Intellektuelle, Gewerkschaften, selbst einer der Unternehmerverbände haben Vorschläge gemacht und Wege zur Beendigung des Krieges aufgezeigt. Dazu gehört, erst einmal den Ausnahmezustand in den südöstlichen Provinzen aufzuheben und endlich ernst zu machen mit der Anerkennung kurdischer Kultur und kurdischer Sprache. Ein oft diskutiertes kurdisches Fernsehprogramm müßte auf Sendung gehen und Kurdisch als zweite Sprache in der Schule zugelassen werden. Erst dann wird man über die Kurdenfrage wirklich offen diskutieren können. Ein solcher Prozeß kann von außen nicht dekretiert werden, aber es wäre sicher hilfreich, wenn US-Amerikaner und Europäer deutlich machen würden, daß sie sich für das Schicksal der Kurden auch jenseits ihrer eigenen Interessen einsetzen werden.